Laufend loslassen
einer Herberge gegeben. Es ist fast sechs, als Verena und ich den gastlichen Ort verlassen. Wir überqueren die Brücke über den Rio Pisuerga und betreten damit die Provinz Palencia.
Dann trennen wir uns. „Ich werde jetzt ein bisschen langsamer machen, damit du allein laufen kannst.“, biete ich Verena an. Sie marschiert etwas schneller davon und ich laufe langsam weiter. Es fällt mir nicht leicht, sie ziehen zu lassen, aber ich will ihr die Möglichkeit geben, die Erfahrung des Alleinseins auf dem Weg zu haben. Ich spüre, dass ich ihre Nähe immer mehr schätze und möchte gleichzeitig darauf achten, ihr in diesem Bedürfnis nicht zu nahe zu kommen. Es wächst dabei eine leichte Befangenheit in mir heran.
Noch ist es Nacht. Während ich weiterlaufe und der Himmel sich langsam aufhellt, staune ich über mich selber. Daheim noch hätte ich jeden für verrückt erklärt, der mir vorher gesagt hätte, dass ich einmal das Aufstehen um fünf als normal empfinden und diesen Übergang von der Nacht bis zu den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne wirklich lieben würde. Jetzt mag ich es, wenn das Mondlicht langsam verblasst, der Himmel hinter mir sich erst türkis und dann gelb zu verfärben beginnt, wenn schließlich die gerade aufgegangene Sonne den langen Schatten des Pilgers auf den Weg zeichnet und sich die Stoppelfelder von graugelb langsam in ausgebreitetes Gold verwandeln. Wenn der Schatten schärfer wird und allmählich kürzer. So erlebe ich das auch heute zwischen Itero de la Vega und Boadillo del Camino.
Die Ultreia-Melodie kommt mir in den Sinn, ich singe das Lied wie ein Mantra fast bis Frómista.
Kurz vor Boadillo kommt mir ein älterer Spanier entgegen, der in einem kleinen Büchlein Adressen oder Grußworte von Pilgern sammelt. Auch ich trage etwas ein, meine Freude über den Weg und den herrlichen Morgen. Boadillo ist ein kleiner Ort, auf dessen Kirchturm viele Störche nisten, von denen manche am Himmel kreisen. Bald ist der Canal de Castilla erreicht, an dessen schilfgesäumten Ufer auf einem Damm der Camino dem Treidelpfad folgt, bis zum Rand von Frómista. Ich freue mich, dass es wieder einmal an einem Gewässer entlanggeht. Die alten Schleusenkammern, die 14 Höhenmeter überwinden und mindestens 150 Jahre alt sind, bringen mich zum Staunen.
Es ist halb zehn, als ich im Zentrum von Frómista eintreffe. Ein kleiner Einkauf steht an, anschließend treffe ich Tom, Verena und eine deutsche Lehrerin in der Bar. Noch ist die sehenswerte Kirche St. Martin geschlossen. Während wir Kaffee trinken, unterhalten wir uns über pädagogische Konzepte, Grenzen und Strafen bei der schulischen Kindererziehung, natürlich auf Englisch, damit Tom einbezogen ist. Er ist „social worker.“
und erzählt von einem interessanten Modell der Familienbildung, bei der Familien zusammen klettern und die dabei gemachten Erfahrungen auf den Familienalltag hin reflektiert werden. Dies interessiert mich, arbeite ich selbst doch auch vermehrt mit Familien und Eltern. Schließlich ist es nach zehn. Patricia und Michaela kommen des Wegs. Wir alle schauen die Kirche an, die 1066 gebaut worden ist. Reichhaltig mit Steinmetzarbeiten verzierte Kapitelle, aber ein ansonsten schlichter Kirchenraum, der mich in seiner Kargheit an Zisterzienserkirchen erinnert. Leise singe ich „Laudate omnes gentes..“ und spüre die außerordentlich gute Akustik des Kirchenraums.
Dann laufe ich weiter. Ich will die Ultreia-Melodie wieder aufnehmen, aber sie ist wie weggeblasen. Ich finde sie nicht mehr. Hinter Población de Campos geht es auf einem Alternativweg entlang von Bewässerungsleitungen und Feldern nach Villarmentero de Campos, wo mir riesige Getreidehaufen auffallen, die zum Trocknen auf einem weiten Platz am Ortsrand aufgeschüttet sind, ganz ohne jede Einfriedung und ohne Regenschutz.
Obwohl ich jetzt schon fast 30 Kilometer gelaufen bin, komme ich immer noch zügig voran. In Villacázar de Sirga, dem vereinbarten Ort unseres Zusammentreffens, ist Dennis schon da. Er hat die Nacht vorher in Frómista verbracht und heute nur einen kurzen Weg gehabt. Ich freue mich sehr, ihn wiederzusehen. Wir begrüßen uns wie alte Freunde, die sich monatelang nicht gesehen haben. Der Hospitalero, ein Deutscher namens Ralph, empfängt mich herzlich. Später hilft er mir auch, die verlorene Ultreia-Melodie wiederzufmden, denn er hat die Noten für das Lied. Bald trifft auch Verena ein. Nach den rituellen Arbeiten - Duschen und Waschen -
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