Laufend loslassen
Sie ist im größten Haus des Ortes, dem früheren Pfarrhaus. Der Flur ist mit Kieselsteinen in Mustern gestaltet und es gibt sogar einen Meditationsraum. Ein großes Plakat mit der Aufschrift „YO SOY EL CAMINO.“ - „Ich bin der Weg.“, ein Jesuswort - prägt den Raum. Im Stockwerk darüber die Betten. Es gibt viel Platz. Insgesamt hat das Gebäude einen sehr wohnlichen Charakter.
Den ganzen Tag ist es sehr heiß, 32, 33 Grad. Dazu weht ein kräftiger Wind. Die Sonne lässt sich nicht blicken, es ist völlig bewölkt. Die warme
Luft macht mich und auch die anderen Pilger müde und schlapp. Der Schlafraum wirkt wie ein Lazarett in den Tropen, wo alle an Fieber leiden. Viele hängen erschöpft auf den Betten herum. Nur den Schwalben kann die Hitze nichts anhaben, sie fliegen munter im Hausflur herum.
Trotz der Schwüle erkunde ich nach einiger Zeit den Ort, streife durch die stillen Straßen. Das Dorf ist eine merkwürdige Mischung von Verfall und trotzigem Widerstand dagegen. Die alte Kirche und manche Häuser sind eingestürzt oder kurz davor, in anderen findet man ganz neue, mehr oder weniger geschmacklose Türen aus dem Sortiment eines großen Baumarktes, die zu dem alten Gemäuer passen wie die Faust aufs Auge. Der heiße Wind scheint jeden Gedanken auszutrocknen heute. Ich erinnere mich, von einem spanischen Wind gelesen zu haben, von dem es sprichwörtlich heißt: „Er bläst keine Kerze aus, aber er tötet den Mann.“ Der heutige wirkt so, als könnte er beides.
Ich komme gerade rechtzeitig zur Albergue zurück, um am Abendgebet teilnehmen zu können. Gebete und Psalmen werden in verschiedenen Sprachen gelesen, das Vaterunser beten wir gemeinsam, jeder in seiner Sprache. Zum Schluss stimmen Dennis und ich ein „Laudate omnes gentes..“ an.
Ich freue mich über diese Gebetszeit in der Herberge, verbindet sie doch die Pilger unterschiedlicher Nationen und Bekenntnisse miteinander. Es hat etwas stark Gemeinschaft Stiftendes, obwohl natürlich längst nicht alle Pilger daran teilnehmen.
Beim Abendessen, das die französischen Hospitaleros für alle vorbereitet haben, sind die Pilger dann komplett. Die Runde ist ganz international, deutsche, französische, spanische, italienische und englische Sprachfetzen fliegen hin und her. Gespräche sind oft lustig. Geht es in einer Sprache nicht weiter, wird einfach ein Wort aus einer anderen genommen, dann mal ein Halbsatz in einer dritten. Manchmal übersetzt auch einer, der weiterhelfen kann, und so verstehen sich doch alle in diesem speziellen „Camino-Esperanto.“.
Zum Sonnenuntergang steige ich auf die alte Bodega, den Weinkeller des früheren Pfarrhauses.
Dort sitze ich mit anderen Pilgern und blicke nach Westen. Dennis und Verena haben einen der hohen Strohhaufen in der Nähe des Ortes erklommen. Langsam sinkt die Sonne über der Meseta, verschwindet hinter sehr fernen Wolken. Da hinten also liegt Santiago, mache ich mir bewusst. Kurz vor der Nachtruhe unterhalte ich mich mit Finn, einem Briten aus Kent, der Philosophie und Deutsch studiert und ausgezeichnet spricht. Wir reden über den spanischen Text eines großen, die Wand des Speisesaals dominierenden Plakates, den ich zu übersetzen versuche:
„Niemand ging gestern
noch geht heute
noch wird morgen
auf Gott zugehen
auf dem mir eigenen Weg
den ich gehe.
Denn es hält bereit
für jeden Menschen
einen neuen Strahl Sonnenlicht
und einen jungfräulichen Weg
Gott.“
Die Nacht ist schwer, es bleibt heiß, selbst in der Nähe des Fensters. Ein paar Regentropfen haben Schwüle gebracht. Trotzdem schlafe ich bis etwa vier Uhr gut.
Montag, 6. August
Als ich aufwache, ist es ganz still im Dormitorio. Um fünf Uhr wird es lebendig. Auch wir machen uns fertig. Im Osten zucken Blitze am Himmel. Wir frühstücken zusammen und ziehen dann durch das schlafende Dorf. Kurz danach geht der Weg schnurgerade, von jungen Platanen auf der Südseite gesäumt, neben der Straße entlang.
Die Meseta ist hier wirklich tischeben. Meine Weggefährten und ich haben vereinbart, dass jeder in seinem Tempo läuft und wir uns in EI Burgo Ranero wiedertreffen. Als ich dort ankomme, geht gerade die Sonne auf. Wir gehen kurz zur Albergue, wo ein etwas schroffer Hospitalero uns nur widerwillig auf die Toilette lässt. Dann ziehen wir weiter, Richtung Reliegos. Wieder geht es schnurgerade durch die flache, steppenartige Landschaft. Es ist ein gedankenverlorenes Laufen, nichts gibt es, was Aufmerksamkeit
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