Laufend loslassen
erzählen wir drei Weggefährten uns in einer Bar neben der Kirche von unseren Erlebnissen. Dennis berichtet lächelnd, dass Spanier ihn unterwegs gefragt haben: „Du hast wohl deine Familie verloren?.“ Verena stellt fest, dass es als einzelner Pilger leichter gelingt, Kontakt mit anderen Pilgern aufzunehmen, die auch alleine gehen. Beide erzählen wir vor allem von der Gastfreundschaft in San Nicolás. „Wollen wir auch weiter zusammenbleiben?.“, fragt Dennis. Alle drei sagen wir Ja dazu.
Um 18.30 Uhr finden wir uns in der Kirche ein, die riesig ist im Vergleich zu dem kleinen Städtchen.
Um das Taufbecken versammeln sich über ein Dutzend Pilger aus vielen Ländern im Kreis. Ralph stimmt ein Taizé-Lied an, „Ubi caritas et amor, ibi Deus est.“. In mehreren Sprachen wird das Evangelium gelesen, es ist Zeit für persönliche Bitten, ein Moment großer emotionaler Dichte. Vor allem die Bitte von Hans und Doris berührt uns drei stark, wie wir später in einem Gespräch feststellen. Das Vaterunser spricht jeder in der eigenen Sprache. Die Namen der Pilger, die gestern da waren, werden vorgelesen und es wird für sie gebetet.
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, für Menschen zu beten, die man nicht kennt, von denen man aber weiß, dass sie die gleichen Strapazen auf sich nehmen wie man selbst, um Santiago zu erreichen - und dabei gleichzeitig zu wissen, dass morgen hier andere Pilger stehen werden, die dasselbe für uns tun. Am Schluss segnet Ralph jeden von uns persönlich für den weiteren Weg. Ich bin von dieser harmonischen, Gemeinschaft stiftenden Gebetszeit sehr beeindruckt. Das Abschlusslied „Laudate omnes gentes, laúdate Dominum.“ klingt noch lange in mir nach.
Abends kaufen wir zusammen mit Julien und Valerie, Hans und Doris ein. Im kleinen Dorfladen deutet Hans auf ein Stück Wurst hinter der gläsernen Ladentheke. „Esta?.“, fragt die ältere Geschäftsinhaberin. „Si, des da!.“, bestätigt Hans auf Hessisch. Wir lachen über diese europäische Spracheintracht. Dann bereiten wir ein gemeinsames Essen, an dem auch Charles und Pascale aus Frankreich teilnehmen. Zwei Italiener setzen sich später noch dazu. Wieder einmal sind wir drei Weggefährten zum Kristallisationspunkt einer fröhlichen Tischgemeinschaft geworden.
Wir bilden eine frohe Runde, bis wir gegen halb elf ins Bett gehen. Doch an Schlafen ist nicht zu denken, weil gerade jetzt auf dem vorher stillen Platz vor der Albergue ein Fest losgeht, mit Feuerwerk, lauter Musik und ausgelassener Stimmung. Es ist wahrscheinlich schon zwei Uhr nachts, bis endlich der Lärm aufhört und Ruhe eintritt.
Freitag, 3. August
Trotz der kurzen Nacht wache ich um fünf Uhr auf. Wir packen zusammen, frühstücken gemeinsam, verabschieden uns herzlich von Ralph, starten und trennen uns dann am Ortsrand. Ich habe den Eindruck, dass Dennis die erste Zeit des Tages für eine Meditation über einen Bibeltext nutzen möchte, bei der er ungestört sein kann. Wir vereinbaren, uns in zwei Stunden zu treffen. Der Erste wird haltmachen und auf die anderen warten. Gestern hat mir Ralph noch die Ultreia-Melodie wiedergegeben, ich singe sie wieder als Mantra auf dem Weg.
Wir finden uns wieder zusammen auf Strohhaufen in einem Feld nach Carrion de los Condes und machen Rast in der Morgensonne. Ab jetzt gehen wir wieder gemeinsam. Der Weg führt entlang der alten Römerstraße Via Aquitania, eine schnurgerade Strecke, deren steiniger Untergrund durch die Stiefel drückt. Schatten gibt es keinen, dafür weht ein kühlender Wind. Auf fast 18 Kilometer keine Wasserstelle. Um uns herum nur die Weite der Meseta, vor und hinter uns immer wieder Pilger, einzeln oder in kleinen Grüppchen. Als endlich der Kirchturm von Calzadilla de la Cueza sichtbar wird, dauert es noch eine Dreiviertelstunde, bis wir im Ort sind. Die einzige Bar dort ist Pilgertreffpunkt. Auch wir rasten. Dennis bricht früher auf, er will ein Stück alleine gehen. Verena und ich starten wenig später. „Wir können gerne Zusammengehen.“, meint sie, „aber ich möchte ein bisschen schweigen.“ Das tun wir dann auch, bis kurz vor unser Ziel. Am frühen Nachmittag erreichen wir Ledigos, das durch seine vielen Lehmbauten auffällt. Dort finden wir drei wieder zusammen. Die private Herberge hat einen schattigen Eingangsbereich und Innenhof, die Betten sind eng beieinander, Toiletten und Duschen gut.
Wir durchstreifen den Ort nach einem Laden und finden keinen. Als wir in der Bar erfahren,
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