Laufend loslassen
wozu ich aber in der Hitze nicht viel Lust habe, kommt Verena daher. Sie hat schon in der kommunalen Herberge Platz gefunden und das gibt auch bei mir sofort den Ausschlag für die Entscheidung, den Rest des Tages hierzubleiben. Nachmittags ist Zeit für eine schöne Siesta. Das Licht im abgedunkelten Schlafsaal tut den Augen gut, draußen ist gleißendes Licht. Wieder helfe ich Verena mit meinen Augentropfen, und diesmal habe ich sie auch selbst nötig. Verenas helfende Hand freut mich.
Wir unterhalten uns dann intensiv über Verhaltensmuster, wie sie auf dem Camino bewusst werden können und wie es ist, daran zu arbeiten. Wir sprechen über Befürchtungen am Beginn der Pilgerreise, die sich darauf bezogen, wie man zum Beispiel mit den Herbergen, den vielen Leuten, den Sanitäranlagen und auch damit zurechtkommt, nur wenig Kleidung dabeizuhaben. Verena stellt fest, dass sich diese Befürchtungen aufgelöst haben, nicht immer, weil die Dinge alle anders sind als gedacht, sondern weil sich beim Pilgern oft herausstellt, dass die eigenen Grenzen weiter sind als zunächst vermutet und man mit Verhältnissen klarkommt, bei denen man sich das daheim nicht vorstellen konnte. Ich beschreibe meine Erfahrung, dass sich meine eigenen Grenzen in Bezug auf die Notwendigkeit einer abgesonderten Privatsphäre auf dem Camino auch erweitert haben.
Im Erzählen eröffnen wir einander mehr und mehr persönliche Eigenarten und Befürchtungen.
So und mit einer Phase des Dösens vergeht der Nachmittag schnell. Bevor wir zum Essen gehen, frage ich Verena noch, ob sie mich morgen notfalls wecken würde, falls ich nicht von alleine aufwache, denn ich habe gar keinen Wecker dabei. Ihre zunächst recht schroffe, ablehnende Reaktion verstört mich und tut mir weh. Habe ich bei ihr eine Grenze überschritten, die ich nicht wahrgenommen habe? Bin ich ihr in dem sehr persönlichen Gespräch vorhin zu nahe gekommen?
Um 19 Uhr gibt es Pilgermenü, das wir zunächst zu zweit essen. Später kommt Tom noch an unseren Tisch. Er wohnt in Dublin und stammt von den Aran-Islands im Westen Irlands. Ich unterhalte mich mit ihm über meine irische Zeit. Die drei Monate 1974, als ich als Rechtsreferendar bei einem Dubliner Anwalt einen Ausbildungsabschnitt absolvierte, waren eine ungeheuer intensive, prägende Zeit für mich. Ich weiß heute noch, dass ich mir damals, zurückgekehrt nach Würzburg, in mein Tagebuch notierte: „Was haben diese Iren nur mit mir gemacht, dass ich so schwungvoll bin?.“ Beflügelt von diesem kurzen, aber wichtigen Lebensabschnitt habe ich dann Edith wenige Wochen später in Würzburg kennengelernt, wo ich meine Referendarzeit abgeschlossen habe und sie Pädagogik studierte. Unsere Hochzeitsreise führte uns dann drei Jahre später nach Irland. Ich frage Tom, der damals bestenfalls ein Baby gewesen sein kann, ob es den „Stags Head.“, einen Pub, in dem meine jungen Anwaltskollegen und ich nach Dienstschluss oft ein Bier zusammen tranken, immer noch gibt. „Klar gibt’s den noch.“, bestätigt er. Verena amüsiert sich und staunt darüber, dass Tom und ich in solchen Details Anknüpfungspunkte finden. Später kommen auch noch Julien und Valerie an unseren Tisch, die wir jetzt ein paar Tage lang verloren hatten. Es wird eine fröhliche Runde, bis wir kurz vor zehn in unser Quartier gehen müssen.
Mittwoch, 1. August
Nachts schon wieder ein Traum aus der Beziehungsreihe, aber mit einem versöhnlichen Ausgang. Ich wache kurz vor fünf mit einem guten Gefühl auf. Eine Ahnung ist in mir, dass ich meine gescheiterte Ehe jetzt losgelassen haben könnte. Es ist seltsam. Gestern noch abends die Erinnerung an den Beginn meiner Liebe zu Edith, angestoßen durch das Gespräch mit Tom, dann nachts der Traum mit dem Thema Abschied und dem stimmigen Gefühl dabei. Verena und ich frühstücken gemeinsam in der Bar. Dann laufen wir kurz hintereinander los. Der Morgen ist nicht ganz so kühl wie gestern. Schon am Dorfausgang ist es dämmrig, sodass die Orientierung kein Problem ist. Im weiten Tal des Arroyo de Garbanzuelo führt der Weg zum Convento de San Antón. Der Camino führt auf einer Straße mitten durch das alte Kloster hindurch, das auch Pilgerherberge war und selbst als Ruine noch sehr imposant ausschaut. Ich folge der Straße nach Castrojeriz mit seinen vielen Kirchen und Klöstern und einer Burgruine auf der Hügelspitze. Leider sind wieder einmal alle Kirchen geschlossen.
An der Außenwand der Iglesia Santo Domingo
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