Laufend loslassen
fallen mir zwei Totenköpfe auf, die mit O Mors und O Aeternitas bezeichnet sind und so an die Vergänglichkeit und Ewigkeit gemahnen. Ich bleibe gedanklich an der Vergänglichkeit hängen. Nichts auf Erden hat Dauer. Selbst ein Jawort, in tiefem Ernst und in der Absicht gesprochen, ein ganzes Leben mit einem anderen Menschen zu teilen, kann dahinsiechen und schließlich sterben, trotz aller Versuche, es zu heilen. So ist es mit Ediths Jawort zu mir gegangen und ich habe diese Realität jetzt wohl angenommen. „Bis dass der Tod euch scheidet.“ Ist es wirklich nur der Tod des Leibes, der hier gemeint ist? Ich spüre Dankbarkeit für die Achtung und den Respekt, mit dem Edith und ich uns dennoch weiterhin begegnen. Und für die grundlegende Solidarität, die immer noch zwischen uns da ist. Eine Weile sinne ich darüber nach. Doch bald hat mich die äußere Realität des Camino wieder.
In einem kleinen Laden ergänze ich meine Lebensmittelvorräte, denn am heutigen Zielort San Nicolas gibt es nichts zu kaufen. Hinter Castrojeriz steigt der Weg an. Inzwischen ist es auch wärmer geworden. Der Weg führt wieder einen Höhenzug hinauf Vor der Spitze bietet sich ein weiter Blick ins Tal und auf die Ketten ferner Windräder. Am Rastplatz oben hole ich Verena ein, die Rast macht. Wir wechseln ein paar Worte. Ich ziehe weiter. Über einen fast ebenen Bergrücken geht es eine Zeit lang voran und dann öffnet sich der Blick über die tiefer liegende weite Ebene mit ihren Kornfeldern, hier alle nur noch goldene Stoppeläcker, und das weiße Band des Weges, der sich in der Ferne verliert. Es ist ein wunderbares Gefühl von Weite, von Raum und Freiheit, das ich bei diesem Anblick spüre. Wie schön, hier pilgern zu können! Während ich eine Vesperpause an einem kleinen Brunnen einlege, holt mich Verena wieder ein und zieht bald weiter, denn das Etappenziel ist nahe. Wirklich, nach eineinhalb Kilometern sehe ich eine alte Kapelle, ein kleines Häuschen daneben und ein paar Schatten spendende Bäume, wo Verena schon sitzt. Der Fleck Erde, den wir da betreten haben, hat etwas fast Unwirkliches.
Die Herberge ist im Innenraum der kleinen Kirche, auf einer Seite der Altar, mit Ikonen geschmückt, in der Mitte ein langer Tisch, auf der anderen Seite die Betten.
Während wir warten, bis wir uns einrichten können, stoßen Patricia und Michaela zu uns, Tochter und Mutter aus Erfurt. Wir kommen gleich in Kontakt und unterhalten uns gut. Beide haben ihre erste lange Etappe hinter sich und Michaela hat überall Schmerzen. „Das ist so am Anfang.“, tröstet sie Verena. „Wenn du da durch bist, geht es dir gut.“ Später, als die beiden direkt über Verena und mir ihre Betten beziehen, fällt mir auf, dass zu ihrer Camino-Ausrüstung auch eine Bibel gehört. Gegen halb acht sammeln sich alle elf Pilger im Chorraum der Kirche, wo die italienischen Hospitaleros die Fußwaschung geben, als Dienst im Sinne des Evangeliums. Dann wird jeweils ein Willkommensritus gesprochen, auf den wir alle mit „Amen!.“ antworten. Die Hospitaleros sind in Mäntel gekleidet, die denen der Templer gleichen. Was wir erleben, ist wie aus einer anderen Zeit und doch Gegenwart. Noch nirgends bisher ist der Geist der tausendjährigen Pilgertradition so kraftvoll spürbar gewesen wie hier in dieser alten Kirche aus dem 13. Jahrhundert. Anschließend gibt es das gemeinsame Mahl bei Kerzenschein und es entsteht eine gute Gemeinschaftsatmosphäre.
Wir lernen dabei auch Sebastian, einen Geschichts- und Sportstudenten aus Schwerin, der in Darmstadt studiert und seine Freundin Michaela, Studentin der Zahnmedizin in Mainz und aus der Pfalz stammend, kennen.
Ein älterer Franzose singt mir auf meinen Wunsch hin am Ende noch das Ultreia-Lied vor, das mich in Conques so beeindruckt hat. Ich möchte mir die Melodie einprägen. Gegen halb elf ist Nachtruhe. Langsam, nach und nach, löscht die Hospitalera Lea die Kerzen. Es wird eine unglaublich ruhige, kraftspendende Nacht.
Donnerstag, 2. August
Ich wache kurz vor fünf auf und gehe hinaus in die Mondscheinnacht. Ein leichter Wind weht schon und es ist mild. Drinnen wird bald ein reichliches Frühstück serviert, natürlich auch bei Kerzenschein, denn es gibt kein elektrisches Licht in der Kirche, sondern nur im Nebengebäude mit den Sanitäranlagen. Lea verabschiedet uns mit einem Küsschen und einer Umarmung. So viel Herzlichkeit beim Empfang, bei der Bewirtung und der Versorgung hat es noch nirgends in
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