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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Mall
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museumspädagogisch viel zu wünschen übrig lässt. Was mich hingegen fasziniert, ist die Architektur.
    Die der Gotik nachempfundene Bauweise entfaltet eine fast feierliche Atmosphäre und Lichteinfall und Raumgestaltung mit Säulen und Spitzbögen sind großartig. Hier Feste feiern können, das wär’s! Auch den Dom gleich nebenan lasse ich mir nicht entgehen. Er ist ein mächtiges Bauwerk, das aber an die Schönheit der Kathedrale von Leon nicht heranreicht. Die Capilla Mayor zerstört wie bei vielen spanischen Kathedralen die Raumwirkung des Mittelschiffs. Dagegen ist das Deckengewölbe eindrucksvoll.
    Danach eile ich schnell zur Herberge zurück. Dennis und Verena haben für uns drei gekocht und es gibt leckere Nudeln mit Garnelen und Käsesoße, Salat als Vor- und Melone als Nachspeise. Ich habe das Gefühl von Familie. Jeder von uns hat den Tag über etwas anderes getan und erlebt, jetzt kommen wir zusammen und erzählen. Anschließend bummeln wir noch durch die Altstadt, schauen von einem Straßencafd aus dem lebhaften Treiben auf der Plaza Mayor zu und gehen kurz vor Sonnenuntergang zur Herberge zurück. Verena und ich verabschieden noch den Tag mit der gerade untergehenden Sonne von der Terrasse über der Stadtmauer Astorgas aus, dann macht auch jeder von uns sich fertig für die Nacht. Meine italienischen Zimmergenossen essen noch unten, während ich schon im Bett bin.
    Vor dem Einschlafen ziehe ich Bilanz. Es war ein Tag voller Verbundenheit mit den anderen und dabei gleichzeitig auch ein Tag eigenen Weges. Ein Gedanke, der mir unterwegs kam, beschäftigt mich noch weiter. Ich will Ediths neuen Freund kennenlernen.
    Das hat für mich damit zu tun, mich der veränderten Realität meiner Beziehung zu Edith zu stellen. Nur wenn ich die beiden zusammen
    erlebe, kann ich wirklich wissen, ob ich Edith als meine Ehefrau losgelassen habe.
    In den Jahren, in denen unsere Liebe noch jung war, hatte ich immer gehofft, sie könne an meiner Seite glücklich werden für ein ganzes Leben. Ich wollte sie nicht fesseln, sondern zu so einer großen Liebe fähig sein, dass ich — sollte sie irgendwann einmal merken, dass sie an meiner Seite nicht glücklich leben könnte - sie wieder freigeben und loslassen können würde. Als es dann so weit war, konnte ich es nicht.
    Ich klammerte mich an sie. Als sich Jahre nach der Trennung bei ihr eine neue Partnerschaft entwickelte, merkte ich immer mehr, wie glücklich sie darin war. Ich liebte sie mit einer fesselnden, anklammernden Liebe weiter, die mich auch selbst unfrei machte. Jetzt, durch alles, was auf meinem bisherigen Jakobsweg geschehen ist, spüre ich, dass sich nicht die Intensität, aber die Qualität meiner Liebe verändert hat. Ich bin mir sehr sicher, dass ich diese Fähigkeit jetzt habe. Aber wirkliches Wissen darüber, ob ich mir nichts vormache, erlange ich erst, wenn ich sie und ihren Freund miteinander erlebe. Dem will ich mich bewusst stellen.
     

Freitag, 10. August
    Kurz vor halb sechs stehe ich auf. Wir frühstücken zusammen. Endlich einmal Knuspermüsli, was uns alle freut. Dann gehen wir nacheinander los, ich starte um halb acht. Wieder begegnen mir in der Stadt die letzten Nachtschwärmer, angeheiterte Jugendliche, die den Pilgern Lieder nachsingen. Noch einmal vorbei an Gaudis Bau und an der Kathedrale führt der Weg dann schnell aus der Stadt hinaus. Ein paar Pilger sehe ich vor mir, auch ein junges Paar, das einen Säugling in einem Tragetuch dabei hat. So haben Edith und ich früher Martina auch getragen und sind gewandert, aber so einen weiten Weg hätten wir uns nie zu gehen getraut. Der Weg führt entlang der Straße durch eine karge, schöne Landschaft. Nach und nach rücken die Berge näher. Murias de Recivaldo erreiche ich schnell.
    An der Albergue stoße ich auf Bianca und Manfred aus Berlin, die gerade mit Verena im Gespräch sind. Wir erörtern mögliche Tagesziele. Ich habe mich entschieden, ohne bisher mit meinen Weggefährten darüber gesprochen zu haben, bis Foncebadón zu gehen, wo eine Herberge in der alten Kirche ist. Diese Entscheidung ist ein Versuch, meine innere Autonomie zu bewahren, denn ich merke, um die Nähe Verenas zu suchen, würde ich mich leicht ihrer Entscheidung anpassen.
    Die Entscheidung für Foncebadón hat noch einen weiteren Grund. Ich kann dann morgen das Cruz de Ferro bei aufgehender Sonne erleben. Diese Wegmarke ist für mich, das war mir schon in der Vorbereitung klar, ein besonderer Punkt, der wichtigste

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