Laufend loslassen
neben Santiago. Dort will ich mit meinem Stein auch die Last, die innere Not, die Verzweiflung, die Mutlosigkeit, die innere Versteinerung eines Lebensabschnitts von einem Jahrzehnt ablegen. Wenn die Sonne des neuen Tages aufgeht, will ich einen neuen Anfang machen, einen neuen Lebensabschnitt beginnen.
Ich laufe zügig weiter. Nach drei Stunden bin ich in Ganso und wähle eine der beiden Bars. Als ich gerade aus dem Haus komme und meinen Kaffee zum Gartentisch balanciere, kommt mir Verena entgegen. Ein paar Minuten später folgen auch die beiden Berliner.
Nach der Rast folgt der sanfte Aufstieg nach Rabanal del Camino. Während ich so laufe, kommt mir ein Bild, das gestern schon kurz aufblitzte. Es ist das Bild eines Hündchens, das gestreichelt wird und dann dem Streichelnden hinterherläuft. Es hat etwas mit meiner Thematik von Anpassung und Eigenständigkeit zu tun. Wenn ich merke, dass jemand mir guttut, mache ich mich leicht abhängig davon und achte weniger darauf, was ich selbst will.
Gleichzeitig wächst die Angst, zur Last zu fallen und zurückgestoßen zu werden, und so beginnt eine Befangenheit dem- oder derjenigen gegenüber.
In Rabanal, einem hübschen Ort mit Pilgerherberge und Benediktinerkloster, kaufe ich für den Weg über die Berge ein. Da kommt Verena und sagt, dass auch sie sich entschieden hat, heute nach Foncebadón zu gehen. Ich freue mich sehr darüber. Wir stoßen auch auf Dennis, der hier in der Albergue der Benediktiner bleibt.
Auf dem weiteren Weg unterhalten Verena und ich uns über Erkenntnisse, die wir auf dem Camino inzwischen gewonnen haben und wie überhaupt Erkenntnisse dabei entstehen.
„Sei dort, wo du jetzt bist, in der Gegenwart. Und das mit Kopf, Geist und Herz.“, nennt sie als Erstes. „Mache alles mit deiner ganzen Aufmerksamkeit, widme dich dem ganz.“
Wirkliche Präsenz, erinnere ich mich, ja, davon hatte auch Frère Wolfgang in Taizé gesprochen. Die Erfahrung der Vergänglichkeit hat sie, wie auch ich, immer wieder auf dem Weg gemacht. „Wenn du etwas tun willst, tue es gleich.“, leitet sie daraus für sich ab. Wir erzählen einander, wie der Weg uns immer offener macht für Einsichten in uns selbst. „Was mich der Camino lehrt, ist, mehr und mehr auf meine innere Stimme zu achten. Ich finde, das ist sehr wichtig.“, erklärt sie mir.
„Wie hörst du diese Stimme?.“, frage ich sie.
„Es ist eine Art innerer Gewissheit. Damit sie entstehen kann, braucht es Ruhe und Aufmerksamkeit für mich selbst.“, antwortet sie. „Es ist nicht einfach zu erklären.
Vielleicht ist diese innere Stimme auch schon immer da, eine Art Funke Gottes in uns. Sie wird spürbar als eine Form von Glück, mich im sinngebenden Zusammenhang mit der Welt zu erleben. Dabei entsteht eine neue Erkenntnis, ich weiß dann, was richtungsweisend ist, was zu tun ist.“, erklärt sie nachdenklich. Ich erzähle ihr, dass auch ich auf dem Weg immer wieder Situationen erlebt habe, wo plötzlich eine solche innere Gewissheit da war, sowohl in kleinen als auch in zentralen Dingen. Etwa in dem Moment, wo ich meinen Ring ablegte, oder nach dem Traum in Hontanas. Auch diese Stimmigkeit, die entsteht, wenn ich mich dem inneren Wissen anvertraue, habe ich kennengelernt. Für mich, das fällt mir dabei auf, spricht die innere Stimme in Intuitionen, jedoch auch in Träumen und Bildern. Ich mache deutlich, wie ich das meine und schildere ihr auch das Bild mit dem gestreichelten Hündchen. Es entwickelt sich ein aufschlussreiches Gespräch über meine Entscheidung, in Hontanas zu bleiben und wie ich Verenas Reaktion auf meinen Wunsch, von ihr notfalls geweckt zu werden, in die Schublade „Ablehnung.“ eingeordnet habe.
Ihr war es darum gegangen, wirklich alleine gehen zu können, wie wir es ja in Burgos vereinbart hatten. Außerdem war es ihr wichtig, dass jeder von uns unabhängig sei vom anderen und sich keine Abhängigkeiten entwickeln. Mir wird mein Muster durch das Gespräch verständlich. Nicht selten mache ich mich schwach und abhängig, um Zuneigung wenigstens in der Form von Fürsorglichkeit zu bekommen.
Auch Verena erzählt von ihrem Umgang mit Autonomie und Entscheidungen, spricht Situationen bei ihrer Arbeit an und wie es bei ihr als Kind mit dem Fällen von Entscheidungen war.
Etwas außer Atem durch das viele Erzählen erreichen wir schließlich das fast verfallene Dorf Foncebadón.
Hier ist Paulo Coelho dem fürchterlichen Hund begegnet. Tatsächlich gibt es drei
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