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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Mall
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dass Doris sich immer noch täglich mit Fußproblemen herumplagt. Ein tiefer Respekt vor den beiden breitet sich in mir aus. Für mich ist das Gespräch auch eine erneute Möglichkeit, mir selbst Rechenschaft darüber abzulegen, wohin mich mein innerer Weg auf dem Camino bisher geführt hat. „Viele, die hier unterwegs sind, tragen außer ihrem Rucksack noch ein anderes Bündel mit sich.“, darüber sind wir uns einig.
    Bei Einbruch der Nacht verabschieden wir uns. Ich beziehe mein Bett mit Blick auf die Sterne. Michaela und Sebastian, die beiden Studenten, schlafen ums Eck auch auf dem Balkon, während Doris und Hans eins der kleinen Zimmer für sich haben.
     

Donnerstag, 9. August
    Die innere Uhr ist auf fünf gestellt. Obwohl es in der Herberge noch ganz ruhig ist, wache ich fast auf die Minute genau auf. Am Himmel stehen die Sterne des Orion. Nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg. Er führt schnurgerade an Feldern vorbei auf einer Ortsverbindungsstraße. Leise rauscht und gluckert das Wasser der Bewässerungskanäle am Straßenrand. Ich laufe flott und bin fast allein. Um halb acht geht die Sonne auf, direkt in der Richtung, aus der ich gekommen bin.
    Nach etwa zwei Stunden knickt der Camino ab, überquert die N 120 und führt dann in einem Bogen nach Hospital de Órbigo. Dort stoße ich auf die seltsamste und längste Brücke des Wegs. 20 Bögen schwingen sich über Fluss und Uferwiesen. Kerzengerade führt der Camino durch den Ort. Ein kurzer Blick in die barocke Kirche, dann geht es weiter. Am Ende des Ortes teilt sich der Weg. Die längere und schönere Strecke geht rechts, die kürzere, die der Straße folgt, geradeaus. Ich wähle die schönere. Mir fällt dabei ein, dass ich in Frankreich sicher noch die kürzere gewählt hätte. Mit steigender Freude und Ausdauer beim Laufen ändern sich die Entscheidungen. Etwa in der Mitte der Strecke, in Villares de Órbigo, mache ich Kaffeepause, treffe einen Ungarn. Er ist Maschinenbauingenieur und gelegentlich Lastwagenfahrer, der seinen Job gekündigt hat. Jetzt geht er den Jakobsweg, dann nach England.
    Der Weg wird schmal und schön, erstmals weicht die Meseta sanften Hügeln. In der Ferne die Montes de León, wo auch das Cruz de Ferro steht. Die Berge, schon seit zwei Tagen schwach sichtbar, bekommen langsam klare Konturen und Einzelheiten werden sichtbar. Über den staubigen Weg geht es durch eine von Feldern, Ödland und lichtem Eichenwald geprägte Landschaft. Ich spüre die Freude, wieder eine abwechslungsreichere Gegend zu haben.
    Während ich so laufe, denke ich an Verena und Dennis und was ich an ihnen mag.
    Bei ihr sind es das helle Lachen, die aufrechte Gestalt, der bestimmte, kraftvolle Gang, die kurzen braunen Haare mit einem Schimmer von Gold darin, die hohe, klare Stirn, der Glanz in den braunen Augen, der schnell auffassende Geist, das hohe Engagement für Werte, ihre Entschiedenheit, die Hilfsbereitschaft, das soziale Einfühlungsvermögen, ihre Kontaktfähigkeit und die Würde und Ehrfurcht, wie sie sich in Kirchen bewegt und die auch beim Gebet und im Gottesdienst deutlich werden. Bei Dennis fallen mir die blonden Haare ein, die mich immer ein wenig an den „Kleinen Prinzen.“ erinnern, auch wenn er einen Kopf größer ist als ich, die etwas jungenhaft schlacksige Art, sich zu bewegen, sein Lächeln, sein Humor, der immer wieder für Leichtigkeit auf dem Weg sorgt, das Engagement und die Ernsthaftigkeit, mit der er evangelische Theologie vertritt, sein großes Wissen über Kirchengeschichte und die Bibel, die Offenheit, sich auf das „Katholische.“ bei uns und in den spanischen Kirchen einzulassen, seine selbstverständliche, unaufdringliche und vielleicht gerade deswegen so ansteckende Glaubensüberzeugung, seine Fähigkeit, Einfaches nicht kompliziert und Kompliziertes einfach zu machen. Ich freue mich darauf, die beiden in Ponferrada wiederzusehen. Am Cruz de Santo Toribio ist der Blick frei auf Astorga.
    Das Stadtbild sieht von hier aus wohltuend geschlossen und abgerundet aus. Dann dauert es noch eineinviertel Stunden, bis ich in die Stadt komme. Auf der Suche nach der Herberge verliere ich die gelben Pfeile. Plötzlich vor mir Verena. Ich rufe, sie bleibt stehen. Welche Freude! Sie zeigt mir den Weg zur Herberge, wo sie und auch Dennis eingecheckt haben. Nach dem Pilgerritual mache ich mich auf den Weg zumBischofspalast des großen spanischen Baumeisters Antonio Gaudí. Er enthält ein Museum des Jakobswegs, das aber

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