Laufend loslassen
die Luft. Jetzt liegt er am Fuß des Kreuzes, zusammen mit Zehntausenden von Steinen, die alle wohl für ein Leid, eine Bürde stehen oder eine Schuld, die ein Pilger loswerden oder abtragen wollte. Ja, da gehört er hin, mein Stein, hier ist er in würdiger Gesellschaft. Für mich soll, das nehme ich mir vor, mit dem Loslassen des Steins auch die Last abgeworfen werden, die mein Leben in den letzten Jahren bedrückt und mir alle Lebensfreude genommen hat, sodass ich zu einem Schatten meiner selbst geworden bin.
Ein neuer Lebensabschnitt beginnt soeben. Ich staune über die Sicherheit, mit der ich mir das selbst sage. Aber es ist eine ganz starke Wahrheit in mir. Ich weiß, dass das stimmt. Ich erzähle Michaela und Patricia, die ebenso wie Dennis und Verena mit mir unterm Kreuz stehen, von diesem für mich wichtigen Schritt. Ich habe das Gefühl, dass Michaela mich in diesem Moment am besten verstehen kann. Später erzählt sie mir, dass auch für sie der Moment unter dem Eisenkreuz einer der zentralen Augenblicke der Pilgerreise war.
Mit diesem Gefühl von Befreiung und Neubeginn setze ich meinen Weg fort und tauche wieder in den Alltag des Camino ein. Bald erreicht der Weg eine Stelle, von wo aus der erste Blick auf Ponferrada möglich ist. Das Tal ist recht zersiedelt, große Industrieanlagen und ein Kraftwerk zeigen, dass die Naturlandschaften Kastiliens sich dem Ende zuneigen. Der Weg führt abwärts, aber zunächst weniger steil als befürchtet. Ich durchquere das hübsche Dorf El Acebo, denn in der Bar, wo ich eigentlich Kaffee trinken wollte, kann man nicht draußen sitzen. Also kehre ich erst ein Dorf später in Riego de Abros ein. Ich treffe Verena wieder, die in der etwas abseits des Weges liegenden Bar ebenfalls Pause macht. Während sie schon weitergeht, bleibe ich noch ein bisschen.
Durch ein Tal, teils durch ein Wäldchen, geht es auf einem schmalen Pfad steil bergab. Zeitweise habe ich die Vorstellung, wieder in Frankreich zu sein, so deutlich und schnell ändert sich die Landschaft ins Grüne. Bald erreiche ich Molinaseca, wo die Hitze zunimmt. Immerhin bin ich jetzt deutlich niedriger als bei Tagesbeginn, es wird auch schwüler. Über die alte Brücke geht es entlang des Camino Real schnurgerade durch das Städtchen. Die letzten acht Kilometer nach Ponferrada sind wenig schön, obwohl ich die empfohlene bessere Route wähle. Wieder einmal führt der Weg an einem Gedenkkreuz für einen Pilger vorbei, dessen Weg nach Santiago hier ein letztes Ende gefunden hat. Ich verweile für die Zeit eines Gebetes.
In der Stadt finde ich erst die Herberge nicht und treffe dabei auf einen Pilger aus Frankreich, von dem mir Verena kurz vorher erzählt hat. Er ist in Le Puy gestartet, wie ich später herausfinden werde, am 20. Juni. Denn wir begegnen uns in der Herberge im gleichen Zimmer wieder. Als ich die Herberge erreiche, ist Dennis in der Warteschlange ein bisschen vor mir, später kommt Verena, die sich in Ponferrada auch verirrt hat.
Ich gehe mit Dennis einkaufen, wir finden einen Supermarkt mit Aircondition, genießen die Kühle und kaufen für sechs Personen ein. Es macht Spaß, mit ihm einzukaufen, so unkompliziert und gleichzeitig umsichtig, wie er Entscheidungen trifft. Wir wollen zusammen mit Hans und Doris und Jeromy, einem Amerikaner, der an der Harvard-Universität studiert und den Dennis unterwegs kennengelernt hat, essen.
Vorher machen wir allerdings erst Sightseeing und schauen die alte Templerburg an. Von außen ist sie eindrucksvoll, innen lohnt sie sich wegen der schlechten museumspädagogischen Aufarbeitung allerdings kaum. Auch die Stadt erreicht in Gänze bei Weitem nicht die Schönheit anderer Städte. Während wir unterwegs sind, löst ein Gewitter in den Bergen einzelne Brände aus und wir sehen Löschhubschrauber im Einsatz, die Wasser aus dem Fluss holen, um es zu den Brandherden zu bringen. Zu sechst haben wir einen schönen Abend bei einem guten Essen.
Sonntag, 12. August
In der Nacht spüre ich, dass es mir gesundheitlich nicht gut geht. Früh erwache ich und fühle mich elend.
Ich komme kaum aus dem Bett hoch, bringe keinen Bissen hinunter und kaum einen Schluck Kaffee. Es ist mir speiübel. Ich bitte meine Caminofreunde deshalb, nur eine kurze Etappe zu laufen. Sie willigen ein. Der Weg führt aus der Stadt hinaus, dann durch Vororte. Nicht sehr schön, aber das ist mir heute egal. Unterwegs kehren wir ein und ich trinke nur einen Osborne, um meinen Magen in
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