Laugenweckle zum Frühstück
als Stoppuhr und ließ mich abwechselnd gehen und laufen. Als wir wieder am Hauseingang angekommen waren, musste ich meine durchweichten Schuhe und Strümpfe ausziehen, um nicht zu einer Zwangskehrwoche fürs ganze Haus verpflichtet zu werden. Vom spritzenden Schneematsch war ich bis zum Oberschenkel nass und verdreckt. Meine Knie zitterten, meine Zähne klapperten und gleichzeitig stand mir der kalte Schweiß auf dem Rücken. Meine Regenjacke gehörte nicht gerade zur Sorte atmungsaktiv. Noch nie war mir der Weg in den fünften Stock so weit vorgekommen. Meine nackten Füße waren mittlerweile krebsrot angelaufen vor Kälte.
»Na, Line, wie fandest du es?«, fragte Leon. Er klang euphorisch und wollte offensichtlich gelobt werden.
»Es war toll, ehrlich«, sagte ich. »Ich bin so glücklich wie noch nie in meinem Leben. Und falls Bosch dich mal nicht mehr haben will, könntest du dich als Aufseher für Guantánamo bewerben.«
Ich duschte zehn Minuten so heiß, dass ich mich beinahe verbrühte. Danach rieb ich meine schmerzenden Füße mit Beinwohl ein, zog meinen alten Jogginganzug an, kochte eine heiße Schokolade, tat drei Löffel Zucker hinein und ließ mich vollkommen erschöpft auf mein Sofa fallen. Mir tat alles weh. Es musste doch unkompliziertere Methoden geben, um auf Leons Hintern glotzen zu können? Vielleicht ging er ja gern in die Sauna?
Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Obwohl ich mich körperlich völlig zerschlagen fühlte, schlich sich langsam ein Wohlgefühl in meinen Körper. Eine angenehme Müdigkeit und eine seltsame Zufriedenheit mit mir und der Tatsache, mit Leon im Schneematsch durch die Kälte gerannt zu sein. Der Ärger mit Herrn Tellerle war plötzlich weit, weit weg. Hmm. Vielleicht war ja doch was dran an der Geschichte mit den Glückshormonen.
9 Staffel, schwäbisch Stäffele (Sg. + Pl.), ursprünglich Weinbergstaffeln, Bezeichnung für die vielen, teilweise idyllischen Treppen, die das im Kessel gelegene Stuttgart durchziehen. Stäffele unterscheiden sich durch ihre Bequemlichkeit, also den Abstand der Stufen voneinander. Manche sind kommod (bequem), andere dagegen inkommod (unbequem).
9. Kapitel |
Dienstag
Du hast die schönsten blauen Augen in der ganzen Stadt
und du hast Haare, wie sie sonst nur ne Prinzessin hat
.
Wer dir begegnet, findet dich auf Anhieb toll
und ich weiß nicht, wie ich dir’s sagen soll:
Ich kann dich überhaupt nicht leiden
und ich würd es gern vermeiden, dich zu seh’n
,
drum willst du bitte gehn
.
Du bist mir ganz und gar zuwider
und ich sag es immer wieder, ich hab’s satt
,
drum hau jetzt bitte ab
.
»Weißt du, du warst immer so drollig. Du hast ständig was fallenlassen und einmal hast du den Kühlschrank in der Kaffeeküche mit dem Hammer abgetaut, mit dem Ergebnis, dass ich einen neuen kaufen musste. Und komischerweise gingen immer die Drucker kaputt, an denen du ausgedruckt hast.« Rolf nahm einen tiefen Schluck aus seinem Rotweinglas. Es war Dienstagabend und wir saßen in der
Rosenau
. Zum Glück saßen wir. Ich hatte den kurzen Weg von zu Hause in einem Tempo zurückgelegt, das einer 90jährigen Seniorin mit Rollator peinlich gewesen wäre. Das lag an einem entsetzlichen Muskelkater. Von Endorphinen keine Spur mehr. Um die schmerzenden Beine nicht mehr zu heben als nötig, hatte ich einen Schlurf-Shuffle-Schritt kreiert.
»Das mit dem Kühlschrank, das war ein Unfall«, murmelte ich. Drollig. Ich war mir nicht sicher, ob ich drollig sein wollte, zumindest nicht in den Augen eines ehemaligen Chefs, der immerhin mal mit mir rumgeknutscht hatte und mit dem ich verabredet war, weil ich ein Arbeitszeugnis brauchte. Ein Zeugnis, das mir bei der Jobsuche helfen sollte. »Pipeline Praetorius hat die ihr übertragenen Aufgaben stets sehr gewissenhaft, zu unserer vollsten Zufriedenheit und so drollig wie nur irgend möglich erledigt. Sollten Sie sie einstellen wollen, dann bringen Sie rechtzeitig die Kühlschränke in Sicherheit.« Damit konnte man sich nirgends bewerben.
»Kompetent«, sagte ich. »Findest du nicht, dass ich auch ausgesprochen kompetent war? Fachlich, meine ich?«
»Ich finde, jetzt, da ich nicht mehr dein Chef bin«, raunte er, »sollten wir unsere Beziehung auf ein neues Fundament stellen.« Wieder nahm er einen tiefen Schluck aus seinem Glas.
»Äh ja, gerne, und wie genau stellst du dir das vor?«
Rolf beugte sich vor. Ich konnte seinen Atem riechen. Er roch ziemlich nach Alkohol. Dieses Glas Wein war
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