Laugenweckle zum Frühstück
Klassenbeste. Sie nickte und setzte sich wieder an ihr Tischchen. Großartig. Anstatt mich um meine Unterlagen zu kümmern, schnarchte ich wie ein Berber und sabberte die neueste Ausgabe von Psychologie heute voll.
Ich ging aufs Klo, ließ mir Wasser über das Gesicht und die Handgelenke laufen und holte mir dann einen Becher Kaffee. Die über die internationalen Zeitungen gebeugten Gesichter waren die gleichen, die ich am Vortag gesehen hatte. Manche Menschen schienen in der Stadtbücherei zu wohnen. Vielleicht falteten sie sich am Abend wie eine Ziehharmonika zusammen und übernachteten für zwei Euro Pfand in den Schließfächern, weil es dort nachts so schön ruhig war.
Als ich endlich wieder an meinem weißen Tischchen saß, waren zweieinhalb Stunden vergangen, seit ich die Stadtbücherei betreten hatte. Bewundernswert, wie unaufhaltsam ich meine Ziele verfolgte. Eine Weile beobachtete ich die Streberin. Sie machte sich konzentriert Notizen, ohne ein einziges Mal aufzusehen. Ich nahm mir vor, sie mir als Vorbild zu nehmen.
Da die Zeit nun schon so weit fortgeschritten war, musste ich entscheiden, ob ich mich um den Lebenslauf oder das Zeugnis kümmern wollte. Das Zeugnis schien mir dringlicher zu sein, also räumte ich den ganzen Lebenslaufliteraturberg wieder zurück in die Regale. Nun hatte ich schön viel Platz auf meinem Tisch. Ich holte tief Luft und schlug das erste Buch auf.
Nach weiteren drei Stunden, in denen ich mir zwischendurch bei Rewe am Olgaeck ein gesundes, mit Salat belegtes Salamibrötchen geholt hatte, wegen des Kaffee zweimal auf dem Klo gewesen war, ein bisschen in einem Reiseführer über die Innere Mongolei geschmökert und meine konzen triert arbeitende Tischnachbarin, die ich mir ja zum Vorbild genommen hatte, so intensiv angestarrt hatte, dass sie irritiert aufblickte und mir einen bösen Blick zuwarf, stand das Grobgerüst meines Arbeitszeugnisses und ich war sehr zufrieden mit mir.
Das lag natürlich auch daran, dass mir die Agentur Rolf & Heinz für meine stets sehr guten Leistungen dankte, den Zusammenbruch ihrer Firma und meinen dadurch verursachten Fortgang und eventuell daraus entstandene Unannehmlichkeiten außerordentlich bedauerte und sich eigentlich auch zukünftig die Fortsetzung der konstruktiven und äußerst angenehmen Zusammenarbeit gewünscht hätte. Aufgrund der Unmöglichkeit dessen war sie der Bitte nach einem Arbeitszeugnis sehr gerne nachgekommen und verlieh mit Nachdruck dem Wunsch Ausdruck, ich möge bald wieder eine meinen herausragenden Fähigkeiten entsprechende Beschäftigung finden. Insbesondere der von Frau Praetorius geprägte Spruch »Mach es wie die Eieruhr, zähl die heitren Stunden nur« war mittlerweile zu einem geflügelten Wort geworden und hatte entscheidend zum Image der Agentur beigetragen. Ja, ich war stolz auf mich.
Ich verschob die Reinschrift des Zeugnisses auf den nächsten Tag, weil man ja über wichtige Dokumente immer noch eine Nacht schlafen sollte. Es war schon dunkel, als ich die anregende Atmosphäre der Stadtbücherei verließ. Um nach den zwei Salamiportionen des Tages noch etwas Gesundes zu essen, holte ich mir bei Alnatura in der Tübinger Straße eine Biopizza »Vier Käsesorten.«
Ich hatte gerade den Ofen angeschaltet und es mir vor dem Fernseher bei »Bezaubernde Jeannie« bequem gemacht, als es klingelte. Allmählich entwickelte sich Leon zur Landplage. Warum scharwenzelte er nicht um seine Sandkastenliebe herum?
Ich öffnete und blieb im Türrahmen stehen. Ich hatte mich auf einen gemütlichen Abend gefreut, die einzige männliche Präsenz sollte sich am Ende einer Telefonleitung befinden und mein zukünftiger Lover werden. Für Leon war jetzt kein Platz.
Mein Nachbar hielt mir eine Zeitungsseite vor die Nase.
»Sag mal, liest du die
Stuttgarter Zeitung?
«
Ich schüttelte den Kopf. Ich war zwar eine Intellektuelle und las Flaubert, Baudelaire und Beauvoir, aber eine Tageszeitung hielt ich für Zeitverschwendung. »Nein, wieso? Liest du sie? Den Sportteil wahrscheinlich?«
»Den Politikteil, vor allem. Manchmal auch durch Zufall die Todesanzeigen.« Er streckte mir die Zeitungsseite hin.
»Ist jemand gestorben, den du kennst?« Es war kaum davon auszugehen, dass jemand gestorben war, den ich kannte, denn woher sollte Leon wissen, wen ich kannte?
Meine Augen überflogen die Seite. Es dauerte eine Weile, bis ich die Anzeige sah. Sie war nicht besonders groß.
Mein getreuer Freund und liebster
Weitere Kostenlose Bücher