Laura Leander 02 - Laura und das Siegel der Sieben Monde
einmal ändern zu dürfen. Alles ganz anders machen zu können, damit er endlich Ruhe fand. Aber was einmal geschrieben steht im Buch des Lebens, war nicht mehr zu löschen, und jeder war dazu verdammt, die Folgen seiner Taten zu tragen. Auf immer und ewig – niemand wusste das besser als der Rote Tod.
In diesem Augenblick sah er das Mädchen, das aus der Burg gerannt kam. Rasch trat er einen Schritt zurück, verbarg sich im Schutze eines dichten Kirschlorbeerbusches und spähte hinter der Blonden her.
Sie lief in Richtung See.
Eigenartig, dachte er. Eigentlich hat sie doch Unterricht. Er kannte Lauras Stundenplan ganz genau. Wie er auch sonst fast alles über sie wusste. Was also will sie um diese Zeit am See?
Der Rote Tod beschloss, ihr nachzugehen. Schließlich geschah alles, was sie taten, nur ihretwegen, und so konnte es bestimmt nicht schaden, sie im Auge zu behalten. Oder notfalls sogar -
Und bei diesem Gedanken verzerrte wieder ein grimmiges Lächeln sein totenbleiches Gesicht.
Das ist alles so ungerecht! So verdammt ungerecht! Wütend schleuderte Laura den Kieselstein von sich. Das flache Wurfgeschoss sprang von der Wasseroberfläche ab und tanzte zwei… drei… vier… fünf… sechs Mal über die sonnenbeschienenen Fluten des Drudensees, bevor es in den Tiefen versank. Das war ein neuer Rekord für Laura – auch wenn sie das nicht besänftigen konnte.
Das Mädchen setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm am Ufer, stützte das Gesicht auf die Hände und starrte hinaus auf den See. Die Märzsonne sprenkelte das bleigraue Wasser mit silbrigen Tupfern. Enten quakten im verdorrten Schilf, und ein bunter Eisvogel stürzte sich auf der Suche nach Futter in die Fluten.
Der Anblick der dicht bewachsenen Insel inmitten des Sees steigerte Lauras Wut nur noch. In einer Woche würde sich in ihrem Zentrum die magische Pforte öffnen, durch die sie nach Aventerra gelangen konnte. Seit der Wintersonnenwende fieberte sie diesem Tag entgegen, an dem sie den Kelch der Erleuchtung zurück in die Welt der Mythen bringen konnte. Aber nun war alles wieder in Frage gestellt. Das rätselhafte Verschwinden des Professors hatte die Lage dramatisch verändert.
Verärgert bohrte Laura eine Stiefelspitze in den feuchten Ufersand. Das hatten die Dunklen wirklich geschickt eingefädelt – das musste man ihnen schon lassen!
Laura fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen, ihr war plötzlich zum Weinen zu Mute. Schon legte sich ein feuchter Schleier über ihre Augen, als ein heiserer Schrei sie überrascht aufblicken ließ. Der herrische Ruf schien aus weiter Höhe zu kommen. Und tatsächlich: Hoch oben, im klaren Blau des Himmels, kreiste ein majestätischer Vogel über dem Drudensee. Laura konnte ihn nicht genau erkennen. Die Sonne blendete sie. Sie sah nicht mehr als einen lichtumflorten Schattenriss, der sich vor dem Firmament abhob. Er war riesig. Der Größe und Form nach zu urteilen, musste es sich um einen Adler handeln. Obwohl Laura noch niemals zuvor einen solchen Raubvogel in der Gegend von Ravenstein beobachtet hatte, war sie ganz sicher. Mit weit ausgebreiteten Schwingen kreiste das imposante Tier ruhig im Himmelslicht, erhaben wie ein Bote aus einer fremden Welt. Erneut trug der Wind seinen Ruf an Lauras Ohr – und da musste sie an ihren Vater denken.
P apa.
Papa, der daraufwartete, dass sie ihm zu Hilfe kam.
Der darauf vertraute, dass sie ihre Aufgabe erfüllte.
Dass sie den Mut nicht verlor!
Noch im gleichen Augenblick fiel ihr ein, dass sie beinahe wieder alles falsch gemacht hätte. Sie war schon drauf und dran gewesen, sich völlig kampflos ihrer Verzweiflung zu ergeben – und damit hätten die Dunklen ihr vordringlichstes Ziel erreicht gehabt. Denn ein Gegner, der seinen Mut verliert, ist ein leichter Gegner und bietet keinen echten Widerstand mehr.
Laura wischte sich die Tränen aus den Augen. Wie hatte sie nur so kopflos sein können! Wie hatte sie nur vergessen können, was ihr Vater ihr schon von Kindheit an beigebracht hatte: Nur wer aufgibt, hat schon verloren!
Laura straffte sich, und ihre blauen Augen blitzten vor Entschlossenheit. Nein, sie würde nicht klein beigeben – nicht solange sich ihr noch die kleinste Chance bot. Immerhin blieben ihr noch sieben Tage – und die würde sie nutzen, um den Kelch zu finden. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wo sie mit der Suche beginnen sollte. Keiner der Dunklen würde sie davon abhalten können, sich mit aller Kraft ihrer Aufgabe
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