Laura Leander 05 - Laura und der Ring der Feuerschlange
einen Weidenbusch streifte und dann direkt auf das Steilufer zuraste. Für einen Moment sah es so aus, als würde das Fahrzeug umkippen, wurde dann jedoch in die Luft katapultiert. Gleich einem überdimensionalen Marienkäfer segelte es mehrere Meter weit, bevor es mit einem lauten Aufklatschen im Wasser landete. Obwohl die Ereignisse wie in Zeitlupe vor Lauras Augen abzulaufen schienen, war alles so schnell gegangen, dass sie keine Zeit gehabt hatte zu schreien. Überraschenderweise verspürte sie nicht den geringsten Schmerz. Sie hatte den Unfall offensichtlich heil überstanden.
Ihre Mutter dagegen wirkte benommen. Die Hände immer noch um das Lenkrad gekrampft, saß sie reglos wie eine Puppe auf dem Fahrersitz und starrte mit weit aufgerissenen Augen durch die Windschutzscheibe aufs Wasser, durch das der Wagen, noch immer angetrieben von der Wucht des mächtigen Satzes, dahinglitt. Der See musste an dieser Stelle, rund zwanzig Meter vom Ufer entfernt, schon recht tief sein, und das Auto begann rasch zu sinken. Bald reichte das Wasser bis zum Radkasten des Käfers und drang mit aller Macht durch die Ritzen der Autotüren. Der Innenraum füllte sich so rasch, dass das Wasser dem Mädchen schon nach wenigen Augenblicken bis zur Mitte der Waden reichte. Laura warf einen Hilfe suchenden Blick zu ihrer Mutter und rüttelte sie. »Mama?«, rief sie voller Angst.
Da erst kam wieder Leben in Anna Leander. Zum Glück schien auch sie unverletzt zu sein. Jedenfalls konnte Laura keine Wunden entdecken.
»Raus hier! Schnell!«, herrschte Anna die Tochter an, während sie sich zur Seite beugte und Lauras Sicherheitsgurt öffnete. In größter Hast – das Wasser ging ihr bereits bis zur Taille! – kurbelte sie das Fenster der Beifahrertür herunter. Während sich eine Sturzflut gurgelnd ins Wageninnere ergoss, packte Anna Leander das Mädchen unter den Armen – und dann…
»Und dann?«, wiederholte Lukas ungeduldig. »Jetzt sag schon, Laura – was ist dann passiert?«
Wie benommen starrte seine Schwester vor sich hin. Laura war noch immer so sehr in die Erinnerung an den schrecklichen Unfall versunken, dass sie die Stimme des Bruders nur wie durch einen dichten Nebel wahrnahm.
»Jetzt lass sie doch, Lukas«, meldete sich Marius Leander zu Wort, »hör auf sie zu quälen! Der Unfall war schrecklich genug. Wir alle haben sehr darunter gelitten und möchten nicht gern daran erinnert werden.«
»Ja, verstehe«, antwortete der Junge schnell. »Aber die Frage scheint Laura nun mal zu beschäftigen. Sie hat doch von sich aus angefangen, über den Tag zu reden, an dem Mama –« Er brach ab und starrte beklommen auf das Grab, vor dem sie standen.
Da erst wurde Laura wieder bewusst, wo sie sich befand: auf dem Friedhof.
Am Grab ihrer Mutter.
Ein rascher Blick auf den schlichten Gedenkstein zeigte ihr, was sie ohnehin schon wusste: Heute jährte sich der Tag, an dem Anna Leander ums Leben gekommen war, zum achten Mal. Aus diesem Grund waren die Geschwister gleich nach dem Unterricht mit ihrem Vater zum Friedhof von Hohenstadt gefahren, um die Grabstelle mit einem frischen Blumenstrauß zu schmücken. Die orangeroten Gerbera, Annas Lieblingsblumen, harmonierten perfekt mit den Blüten der Herbstastern, die, eingerahmt von kleinen Buchsbäumen, Erika und Efeu, die Grabbepflanzung bildeten. Als freue sich die Mutter über das Blumengebinde, kam just in dem Moment, als Laura es niederlegte, die Oktobersonne hinter den Wolken hervor und tauchte den gesamten Friedhof in samtige Goldfarben. Auch die weit ausladenden Bäume und die Zypressen- und Wacholdersträucher, die die Wege und Pfade säumten, schimmerten in ihrem Glanz.
Laura spürte die warmen Strahlen auf der Haut. Sie kitzelten sie im Gesicht, und sie musste die Augen zusammenkneifen, um nicht geblendet zu werden. Ein lauer Wind spielte mit den blonden Haaren, die ihr bis auf die Schultern reichten. Lukas hat ja Recht, schoss es dem Mädchen durch den Kopf. Ich musste einfach darüber reden, weil ich…
Laura runzelte die Stirn und sah hoch zu ihrem Vater, der neben ihr am Grab stand. Marius schien Anna noch immer genauso zu vermissen wie seine Kinder. Sein Gesicht jedenfalls wirkte ernst und traurig.
»Ist schon okay, Papa«, sagte sie rasch. »Es stimmt ja, was Lukas sagt. Ich muss in letzter Zeit dauernd an diesen Unfall denken. Und je länger ich darüber nachgrübele, desto merkwürdiger erscheint er mir. Ich bin mir fast sicher, dass damals nicht alles mit
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