Laura Leander 05 - Laura und der Ring der Feuerschlange
Glasfenster nur wenig Licht hereinließen. Auch der mächtige Leuchter, der von der Decke hing, verbreitete nur einen schwachen Schein, sodass die hohen Bücherregale in geheimnisvolles Halbdunkel getaucht waren. Nur die Leuchten auf den Arbeitstischen warfen helle Kreise auf die ausgebreiteten Bücher, Manuskripte und sonstigen Unterlagen. Nicht einer der lesenden Studenten schaute auf, als Laura in der Begleitung ihres Bruders eintrat und auf den Bibliothekar zuschritt, der wie ein gestrenger Hüter des hier versammelten Wissens hinter dem Ausleihtresen thronte.
Der große, hagere Mann trug einen Anzug, der genauso mausgrau war wie sein schütteres Haar, dessen Scheitel mit dem Lineal gezogen zu sein schien. Sein schmales, von zahllosen Falten gezeichnetes Gesicht hatte die Farbe von altem Pergament. Auf seiner Nase saß eine runde Nickelbrille, mit der er Laura an einen Uhu erinnerte. Als der Mann – das Namensschild auf dem Tresen wies ihn als Dr. Wagner aus – die Geschwister hörte, blickte er auf und beäugte sie misstrauisch.
»Ja?«, fragte er mit schnarrender Stimme. »Was kann ich für euch tun?«
Laura kam sich mit einem Mal ziemlich dumm vor. War es nicht eine Schnapsidee, nach so vielen Jahren hier aufzukreuzen und darauf zu hoffen, irgendwelche Spuren zu entdecken, die sie zu ihrer Mutter führen würden?
Lukas indes verzog keine Miene. Er schien darauf zu vertrauen, dass seiner Schwester etwas einfiel.
Laura räusperte sich. »Wissen Sie… Ähm… es ist so: Unsere Mutter…«
»Ja, natürlich!« Ein Lächeln erschien auf dem Eulengesicht. »Du bist Laura, nicht wahr? Laura Leander?«
»Ja! Aber woher –?«
»Wie sollte ich mich nicht an dich erinnern können?«, antwortete Dr. Wagner und beugte sich vor, um Laura näher in Augenschein zu nehmen. »Du hast dich doch kaum verändert, auch wenn du natürlich älter geworden bist.«
Laura wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Du bist mir damals schon aufgefallen. Ein kleines Mädchen, das Stunden in einer Bibliothek zubringt, ohne auch nur ein einziges Mal zu quengeln oder sich bei seiner Mutter zu beschweren, das ist äußerst ungewöhnlich«, fuhr Dr. Wagner fort.
»Dann können Sie sich also noch an meine Mutter erinnern?«, fragte Laura aufgeregt.
»Ja, freilich. Sie hat mich um Rat gebeten, und so habe ich ihr bei der Recherche für ihre Diplomarbeit geholfen und ihr auch einiges aus unserer historischen Dokumentensammlung zur Verfügung gestellt. Das hätte mich damals beinahe die Stelle gekostet.«
Die Geschwister wechselten einen erstaunten Blick.
»Ich weiß sogar noch den Titel ihrer Arbeit.« Er seufzte. ›»Alchimie – Falscher Zauber oder ernsthafte Wissenschaft?‹ – Ihr wisst doch bestimmt, was Alchimie ist?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. »Die Alchimie ist eine uralte Wissenschaft. Die Alchimisten suchten nach einem Verfahren, um Gold künstlich herzustellen. Außerdem wollten sie einen Trank entwickeln, um alle Gebrechen zu heilen, und eine Substanz entdecken, die Unsterblichkeit schenkt.«
Die Kinder lauschten seiner schnarrenden Stimme wie gebannt.
»Nun…«, erklärte Dr. Wagner schließlich, »… unser Haus ist für ein solches Thema der ideale Ort. Keine andere Bibliothek weist einen derart umfangreichen Bestand an Büchern auf, die sich mit der Alchimie befassen. Was aber noch viel entscheidender ist: Unsere Handschriftensammlung, die bis ins frühe Mittelalter zurückreicht, enthält einzigartige Dokumente, die nur hier bei uns zu finden sind.«
»Und diese Unterlagen hat Mama für ihre Arbeit herangezogen?«, fragte Lukas.
»Genauso ist es, mein Junge.« Der Bibliothekar nickte und schob seine runde Brille zurecht. »Eure Mutter war eine überaus freundliche und zuvorkommende Frau. Sie war mir deshalb auf Anhieb sympathisch. Und du natürlich auch, Laura…« Er wandte sich wieder dem Mädchen zu. »Deshalb habe ich auch dafür gesorgt, dass Anna Zugang zu dem Juwel unserer Sammlung erhielt – einem Schriftstück aus der Feder von Georg Faust, auch als Johannes Faustus bekannt, denn noch immer streiten sich die Gelehrten um seinen richtigen Vornamen! Die überwiegende Mehrzahl geht allerdings davon aus, dass er Johannes hieß.«
»Sie meinen doch nicht etwa den Faust?«, fragte Lukas fassungslos.
Dr. Wagner lächelte vielsagend. »Doch, Lukas – genau den! Es handelt sich um den Wahrsager, Magier und Astrologen, dem Goethe in seinem berühmten Theaterstück ein Denkmal gesetzt hat.
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