Lauras Bildnis
hindurch die Fenster des Appartements. Die Vorhänge waren zugezogen. Kein Licht war zu sehen und keine Bewegung. Schlief Laura noch? War sie fort? Es war naßkalt, und ich klappte den Kragen meines Staubmantels hoch. Endlich hörte ich Schritte. Laura trug Laufschuhe und einen blaßblauen Jogginganzug. Sie war erhitzt, und ihre hochgesteckten Haare waren vom Schweiß und der Luftfeuchtigkeit gekräuselt. Sie machte ein paar Lockerungsübungen, schloß auf und verschwand in der Tür. Sie hatte mich nicht bemerkt.
Bis heute weiß ich nicht, woher ich den Mut nahm zu schellen. Zweimal klingelte ich, aber niemand öffnete. Ich drückte die Klinke nieder. Dies war in der Tat verwegen, aber ich befand mich offenbar bereits in einer Strömung, die kein Halten mehr zuließ.
Der Ofen brannte, die Kaffeemaschine lief. Der Jogginganzug lag wie eine leere Schlangenhaut auf dem Boden vor der Tür zum Badezimmer.
‘Ich hole Brötchen’, rief ich dem Rauschen des Wassers zu. Die Dusche wurde abgestellt. Ich hörte jenes Konglomerat leiser Geräusche, das entsteht, wenn sich jemand abtrocknet.
‘Ich hole Brötchen’, wiederholte ich. ‘Gut’, sagte Laura. ‘Das ist nett.’
Als ich vom Bäcker zurückkam, war der Tisch gedeckt. Eine Kerze brannte. Die Kaffeetassen waren gefüllt. Laura hatte ein Handtuch wie einen Turban um ihre Haare geschlungen. Ihre Haut war frisch gerötet und glänzte von Hautcreme, als sei der Firnis erneuert worden. Wir frühstückten in einer Stimmung, wie sie für gute Ehen an Sonntagen charakteristisch ist. Man redet Belanglosigkeiten mit halblauter Stimme und feiert die Normalität und das Vertrautsein wie eine kleine Messe, in der Honigbrötchen und Kaffeeduft die Hostien sind.
Es war inzwischen nach neun, und meine offizielle Dienstzeit hatte begonnen. Es kam nicht oft vor, daß ich gegen die Rituale der Museumswelt verstieß. Ich war pünktlich und nützte die Freiräume selten aus, die mir meine Sonderstellung als einziger Spezialist für die materielle Seite der Malerei an unserem Hause verlieh.
Es war Montag. Ein besonderer Tag, da die Galerie geschlossen ist und wir jene Arbeiten erledigen können, die in den Ausstellungsräumen anfallen. Kleine Reparaturen an den Rahmen zum Beispiel. Das Reinigen verglaster Gemälde. Einige Bilder sind jede Woche neu verschmiert von Fingerabdrücken. Vor allem die realistisch gemalten Akte und darauf die sekundären und primären Geschlechtsmerkmale. Sie üben eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die taktilen Reflexe eines bestimmten Typus von Museumsbesucher aus. Immer wieder also mußte ich den befleckten Damen mit Glasreinigungsmittel und Ledertuch zu neuem Glanz verhelfen, eine Tätigkeit, die auch eine Putzfrau hätte ausüben können, die jedoch zu meinem Aufgabengebiet gehört. Es sind eben Gemälde und keine Fenster.
Ich ging an diesem Tag nicht ins Museum. Ich rief nicht einmal an, um mein Fernbleiben mit einem Vorwand zu entschuldigen. Ich blieb einfach sitzen in Lauras Wohnung und sah ihr zu, wie sie am Waschbecken stand und Geschirr spülte. Sie hatte einen geblümten Kittel an, und ihre frisch gewaschenen Locken wurden von keinem Handtuch mehr gebändigt. Sie schimpfte und drohte, sich die Haare abschneiden zu lassen. ‘Aus der Sicht des Restaurators käme dies einer unzulässigen Übermalung gleich!’ rief ich.
‘Was ich auf dem Kopf habe, sind keine Haare. Es sind die schrecklichen Auswüchse krauser Gedanken.’
Die familiäre Situation und der kokette Ton unserer Gespräche kam mir damals weniger ungewöhnlich vor als heute. Der Beginn meiner Beziehung zu Laura hatte wenig mit einem richtigen Anfang gemein. Es schien sich vielmehr etwas fortzusetzen, was bereits dagewesen war. Wir benahmen uns wie Kinder, die das Spiel spielten, Kinder zu sein. Wenn Kinder Erwachsene spielen, imitieren sie deren Verhalten, parodieren es unabsichtlich. Wenn Kinder jedoch Kinder spielen, dann scheinen sie in sich selbst zu verschwinden. Sie spiegeln sich so lange, bis das Bild blaß wird und sich schließlich ganz auflöst.
Laura hängte das Handtuch auf eine Schnur, die sich vom Ofenrohr zum Treppengeländer spannte. Dann kam sie zu mir und berührte mich leicht am Arm. ‘Es ist ein so schöner Tag. Ich kenne die Stadt noch gar nicht richtig. Laß uns spazierengehen.’ Ich berührte sie an der Schulter. Wir berührten uns wieder und wieder, und die großen Gefühle lichteten sich dabei wie Morgennebel, der die Dinge des Alltags
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