Lauras Bildnis
schließen und die beiden Bilder aufeinander zuwandern lassen. Als ich von Laura weggefahren war, war ich mir wie ein defektes Gefäß vorgekommen, das mit jedem zurückgelegten Kilometer ein Stückchen leerer gelaufen war. Jetzt füllte es sich langsam wieder, aber es schien mir ungewiß, ob es wieder den alten Füllungsgrad erreichen würde. Ich fürchtete mich beinahe, Laura wiederzusehen, so maßlos ich mich zugleich darauf freute.
Ich hatte ihr den genauen Zeitpunkt meiner Ankunft nicht mitgeteilt. Nur den Tag, nicht aber die Stunde. Ein Moment der Überraschung sollte bleiben.
Als ich mit meiner Reisetasche vor meiner Wohnungstür stand, zögerte ich. Sollte ich sie hochbringen und vielleicht einen Schnaps trinken, ehe ich zu Laura ging? Sollte ich nicht lieber gleich zu ihr gehen?
Ich glaubte, vor einer entscheidenden Weggabelung zu stehen, auch wenn es sich nur um wenige Minuten handelte, um eine winzige Zeitverschiebung des Wiedersehens. Doch welche Verknüpfungen, welche neuen Entwicklungen und Kausalketten könnten daraus entstehen! Würde ich erst die Tasche hochbringen, hätte sich ein Quentchen zuviel Vernunft eingeschlichen, auch ein Quentchen Mißtrauen vielleicht.
Dieser Gedanke gab den Ausschlag: Ich begann, in Richtung Lauras Appartement zu rennen. Bedenken Sie, welch lächerlicher Anblick. Ein fünfzigjähriger Mann mit einer Reisetasche unterm Arm rennend auf der Straße. Ich kickte eine Coladose weg. Ich fühlte mich so jung wie seit langem nicht mehr.
Unterwegs begegnete ich Knoop. Er grinste, zog mit einer übertriebenen Geste die weiße Baskenmütze. Ich rannte weiter. Als ich vor Lauras Tür stand, war sie verschlossen.
Ich schloß auf und trat ein. Es war warm und aufgeräumt. Die Deckenlampe brannte. Vielleicht schlief sie. Vielleicht würde sie gleich mit der notwendigen halben Drehung ihres Körpers die Wendeltreppe herabsteigen. ‘Laura’, rief ich. Niemand rührte sich. Ich stieg die Treppe hoch. Ihr Schlafanzug lag wie ein zweidimensionaler Mensch auf dem Bett. Das Kissen war eingedellt von dem Abdruck ihres Kopfes.
Ich entschloß mich zu warten, saß am Tisch, trank einen Rest kalten Kaffee aus Lauras Tasse. Ich sah sie deutlich vor mir auf dem Platz, wo sie gewöhnlich saß. Mein Blick lasierte sie Schicht für Schicht auf den dunklen Malgrund des Zimmers. Einen Teil ihrer Locken trug sie in einem feinen Netz. ‘Laura’, flüsterte ich. ‘Wo bist du. Warum hast du mich nicht erwartet.’
Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Petrarcas Verse fielen mir wieder ein, die ich im Zug auf der Rückfahrt gelesen hatte: ‘Ich bin so mürb vom Warten und vom langen Gefecht der Seufzer, daß ich Haß verspüre auf alles Wünschen, Hoffen und die Schnüre, in deren Schlingen sich mein Herz verfangen.’
Als ich ging, sah ich einen Zettel neben der Fußmatte. Also hatte sie mir wenigstens eine Nachricht hinterlassen. Ich bückte mich und öffnete das mehrfach gefaltete Papier. ‘Zucker’, ‘Essig’, ‘Mehl’, ‘Spülmittel’ stand darauf. Jedes Wort tat mir weh wie der Name eines Nebenbuhlers.
Kein Zweifel, Laura war in der Stadt und hatte beim Weggehen ihren Einkaufszettel verloren. Ich machte einen letzten Versuch und ging hinüber in die Kunsthochschule. Hoffnung hatte ich nicht.
Laura war in ihrem Atelier. Sie saßüber ein Blatt gebeugt und zeichnete. Niemand sonst war im Raum. Sie drehte sich um und lächelte mir entgegen, als ich eintrat. Ich preßte mein Gesicht in ihre Haare und flüsterte: ‘Warum warst du nicht bei dir?’
‘Ich habe nicht warten können’, sagte sie. ‘Deshalb arbeite ich. Es ist die einzige Form, wie man Warten erträgt.’
Ich sah auf die Zeichnung. Es war wie üblich ein Selbstporträt, aber diesmal hatte sie in feinen Linien ihr Gesicht angedeutet, den Mund, die Nase und den Bogen der Brauen. Nur die Augen fehlten. ‘Es ist mißlungen’, sagte sie. ‘Ich sollte mich damit abfinden, ein Gesicht zu haben, das man nicht zeichnen kann. Vielleicht habe ich zwei Gesichter, und deshalb lass' ich sie lieber weg.’
Sie nahm ein Federmesser und schnitt das Oval ihres Gesichtes heraus, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. ‘Der Rest ist für dich’, sagte sie und gab mir das Porträt ihrer Haare.
Das Datum von Lauras Abreise nach Australien rückte näher. Ich empfand es wie den Schnittpunkt der beiden Blätter einer Schere. Je mehr sie zuklappt, um so schneller bewegt er sich. Wenn ich von meiner Angst vor der Trennung
Weitere Kostenlose Bücher