Lauras Bildnis
werde alt.’
Mein Vater kam mir altersloser vor denn je. Ich legte in einer vorsichtigen und zarten Bewegung meinen Arm um seine Schulter. Draußen war alles naß und grau. Der Dunst schien aus den Dingen, den Bäumen, den Häusern, den Stoppelfeldern zu wachsen. Ähnlich wie die Traurigkeit, die tief aus meinem Vater zu kommen schien.
In der betäubenden Wärme meines Elternhauses beugte ich mich über meine Mutter und küßte sie auf die Stirn. Wie immer thronte sie im Ohrensessel, die hochgelegten Beine unter einer Mohairdecke.
Ihr Blick ist ganz anders als der meines Vaters. Er ist unstet und umfaßt viele Dinge zugleich. ‘Du siehst schlecht aus’, sagte sie. ‘Bedrückt dich etwas?’ Sie hatte das gleiche Bild von mir, aber sie durchschaute es viel besser. Sie bemerkte die Pentimente. Ich schüttelte den Kopf. ‘Mich bedrückt nichts, Mutter. Ich bin nur müde.’‘Das sagt dein Vater auch oft von sich. Aber ich glaube dir nicht. Du wirkst, als ob du nicht schlafen kannst. Du kannst mir ruhig sagen, was dich bedrückt.’
Ich schwieg und rührte den Tee in meiner Tasse um. Wie gern hätte ich von meiner Liebe erzählt, aber ich brachte den Mut dazu nicht auf. Wie immer saß ich im skandinavischen Sessel, mein Vater in seinem Schaukelstuhl nahe dem Fenster. Auch er hatte eine Wolldecke über die Beine gelegt. Beide musterten mich mit ihren so unterschiedlichen Blicken. Die grauen Augen meines Vaters wie aus Stein, die braunen Augen meiner Mutter wie aus Glas. Ihre Schattensilhouetten hoben sich dunkel gegen die nebelhellen Fenster ab. Es begann zu schneien. Schneeflocken, die aussahen wie graue Falter, die aus dem Nichts entstanden.
Ich begann stockend, von meiner Arbeit zu erzählen. Leichter fiel es mir erst, als ich von meiner Entdeckung zu reden begann. Ich sah Laura vor mir, als ich die Gentildonna beschrieb.
‘Wie geht es deiner Frau?’ fragte meine Mutter. Sie pflegte immer ‘deine Frau’ zu sagen, als sei dies ein Name oder eine Wesensart.
‘Es geht ihr gut’, log ich. ‘Sie hat viel zu tun.’ Der zweite Satz stimmte wahrscheinlich, und ich atmete auf. Warum benahm ich mich so feige! In den Pausen zwischen unseren Sätzen war es am schlimmsten. Das Schweigen meiner Eltern verhörte mich intensiver als ihre Fragen.
‘Die Liebe ist etwas Wunderbares’, sagte meine Mutter. Mein Vater erhob sich und schenkte ihr Tee nach, rührte ein wenig Zucker in ihre Tasse und setzte sich wieder. Der Schaukelstuhl schwankte und kam allmählich zur Ruhe. ‘Seit über fünfzig Jahren lieben wir uns, mein Sohn, dein Vater und ich. Das ist ein wunderbares Gefühl.’
Mir schwindelte. Was waren die wenigen Wochen mit Laura dagegen.
‘Hauptsache, es geht dir gut’, sagte mein Vater.
‘Dein Sohn macht nicht den Eindruck. Was hat sie eigentlich an, deine Gentildonna?’
Die Frage meiner Mutter verblüffte mich. Es klang, als fragte sie nach der Nachbarin. ‘Ein grünes Kleid’, sagte ich. ‘Atlas. Einen Brustschleier und eine Perlenkette.’‘Echte Perlen oder Zuchtperlen?’‘Damals gab es noch keine Zuchtperlen, Mutter. Es waren echte Perlen.’‘Dann hat sie sie nur geliehen. Kümmert sich deine Frau auch genügend um dich?’ Ich nickte. ‘Aber sicher nicht so, wie es dein Vater tut. Dein Vater kümmert sich rührend um mich. Es ist unglaublich, was dieser Mann noch zu leisten vermag. Du hast seine Natur nicht geerbt. Du schlägst mehr nach mir. Aber auch mit einem Leiden kann man glücklich sein, wenn man sich liebt, mein lieber Sohn. Das solltest du wissen.’
Ihre Stimme schien aus dem ganzen Schatten ihrer Gestalt zu kommen. Es wurde dunkel draußen, aber die Falter sanken immer noch gegen die Scheiben und starben in Regentropfen, die das Glas herabrannen. Mir fiel die Zeile des Schubertliedes wieder ein: ‘Tränen fließen gar so süß, erleichtern mir das Herz’. Aber es blieb mir schwer ums Herz. Ich fühlte mich, als könnte ich mich nie mehr aus diesem Sessel erheben. Die Silhouetten meiner Eltern wuchsen und wuchsen. Sie quollen an den Rändern über, verschmolzen mit der Finsternis im Zimmer. Jetzt hörte ich nur noch ihre Stimmen. Sie schienen aus schwarzen Trichtern zu kommen, die es irgendwo in den zerfließenden Schatten gab.
Die ganze lange Rückfahrt hatte ich zwei Bilder vor Augen. Laura und das Porträt der Gentildonna. Ich sah beide überdeutlich und sogar räumlich, wenn ich sie wie zwei Stereofotografien übereinanderbrachte. Dazu mußte ich nur die Augen
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