Lauras Bildnis
auch nicht miteinander, als ob in der Monotonie der Ortsveränderung alles zum Stillstand gekommen sei.
‘Ich möchte mit dir schlafen’, sagte Laura plötzlich. ‘Hier und jetzt?’‘Ja’, sagte sie mit einem Nachdruck, der mich für meine Bedenken zu strafen schien. Meine Einwände hörten sich kläglich an. ‘Was ist mit dem Kontrolleur?’‘War schon da. Genau wie die Paßkontrolle.’‘Und wenn sie Personalwechsel machen?’‘Wir sind über die Grenze. Da gibt es keinen Personalwechsel mehr.’
Wir standen auf, zogen die Sitze aus, schlossen die Vorhänge vor den Scheiben zum Gang. Es blieben genug Lücken, durch die man ins Abteil sehen konnte.
Laura legte sich hin und breitete ihren Mantel über sich aus. Er bewegte sich, als sie sich unter ihm auszuziehen begann. Ich schlüpfte zu ihr und breitete auch meinen Mantel über uns.
Draußen schneite es. Keine Nachtfalter diesmal, sondern Kohlweißlinge, die aus einem farblosen Himmel flatterten. Ich stützte mich einen Moment auf und öffnete das Fenster. Schneeflocken wirbelten herein und setzten sich auf die Polster, unsere Mäntel, tauten in unseren Gesichtern. Wärme und Kälte, Ruhe und Bewegung löschten einander aus, waren keine Gegensätze mehr.
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis wir merkten, daß die Situation sich verändert hatte. Die Schneeflocken wirbelten nicht mehr, sie fielen ruhig ins Abteil. Ich setzte mich auf und sah hinaus. ‘Wir stehen auf freier Strecke’, sagte ich. Laura hielt mich mit beiden Händen an den Hüften fest. ‘Erzähl, wie es draußen aussieht’, sagte sie. ‘Es gibt nichts zu sehen. Es ist alles weiß. Die perfekte Leinwand.’‘Leg dich zu mir, laß uns schlafen’, flüsterte sie.
Irgendwann erwachte ich von Geräuschen. Dumpfe Schritte und Stimmen drangen vom Gang her. Dann wurde die Schiebetür zu unserem Abteil aufgerissen. Jemand brüllte etwas. Wir verstanden es in der Höhle unserer Mäntel nicht. Wir umschlangen uns und schliefen wieder ein.
Als wir erwachten, war es still und kalt wie in einer Gruft. Wir zogen uns an und schoben die Sitze zurück. Jetzt war es auch draußen dunkel. Nicht einmal die Notbeleuchtung brannte. Ich ging auf den Gang hinaus. Am Ende des Waggons öffnete ich eine der Türen und kletterte in die Nacht. Eine Weile stand ich auf dem Bahndamm, bis zu den Knien in eine Schneewehe eingesunken. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, daß wir mit unserem Waggon allein in dieser Winterwelt waren. Offenbar hatte man uns abgehängt und auf ein Nebengleis geschoben. ‘Reisen, die mit Schwierigkeiten beginnen, werden meistens gut’, sagte Laura. ‘Es ist umgekehrt wie bei Ehen.’
Wir stiegen aus und schleppten unser Gepäck über die Schwellen, im Neuschnee, der um unsere Stiefel stob.
Ein ferner Schimmer lockte uns; schließlich sahen wir Laternen und erleuchtete Fenster. Ein Bahnhofsgebäude aus Klinker, mit verzierten Eisensäulen, ein Wartesaal mit trübem Licht, blankgewetzte Holzbänke, ein bollernder Kaminofen, Uringeruch, schriftliche Hinweise in Frakturbuchstaben, alles wie in einem Vorkriegsfilm.
Von einem Bahnbeamten erfuhren wir, daß man den Wagen wegen eines Defektes abgekoppelt hatte. Ein Weiterkommen würde erst gegen Morgen möglich sein.
Wir zogen zwei Plastikbecher mit heißem Kaffee aus dem Automaten. Dann legten wir uns auf eine der Holzbänke, die Köpfe gegeneinander, und deckten uns wieder mit unseren Mänteln zu. Wir schliefen kaum. Es war eher ein Wachträumen unter den schwachen Sonnen der Kugellampen, deren Sonnenflecken Fliegenleichen vom letzten Sommer waren.
Als wir am nächsten Morgen in der blauen Frühdämmerung der Hauptstadt entgegenfuhren, hielt ich eine kleine Rede, mit der ich Laura unser Reiseziel schmackhaft machen wollte.
‘Wien ist eine gigantische Müllhalde pathetischer Gesten der Vergangenheit, ein riesiger Kaiserschmarren pompöser Architektur, überzuckert von hilflosen Renovierungsversuchen. Die Stadt altert seit ewigen Zeiten genauso schnell, wie man sie zu restaurieren versucht. Dieser morbide Wettlauf prägt alles in ihr, auch die Menschen. Die Hälfte der Ehen wird hier geschieden, woraus neue Ehen entstehen, die nur zur Hälfte haltbar sind. Die Selbstmordrate ist die höchste in Europa, vielleicht weil die Selbstmörder den Schritt kaum als solchen empfinden. Nur in dieser Stadt konnte Freuds Theorie vom Todestrieb entstehen. Nur in dieser Stadt gibt es Lokale, wo Leben und Sterben, wo Aufbruch und Tod
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