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Lauras Bildnis

Titel: Lauras Bildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Boetius
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auf der Straße. Vor mir sah ich den Bus. Der Fahrer hatte die Zeitung beiseite gelegt. Seine Hände lagen auf dem Steuer.
    Ich sah, wie er den Zündschlüssel drehte. Ich lief mitten auf dem Asphalt, als könnte ich so den Fahrer zwingen, nicht ohne mich zu fahren. Mit letzter Kraft kämpfte ich gegen die reißende Strömung. Der Bus fuhr an. Aber der Fahrer hatte die Vordertür aufgelassen, und ich sprang hinein. Als ich schweratmend auf meinem Sitz saß, sah ich mich immer noch rennen. Eine kleine, vorgebeugte Gestalt mit rudernden Armen.
    Meine Frau erwartete mich. Sie stand im Nachthemd in der Tür und sah mich mit kindlicher Verwunderung an. ‘Sie hat angerufen’, sagte sie. Sie wiederholte diesen Satz mehrmals. Zum erstenmal verspürte ich starke Schuldgefühle. ‘Geh bitte wieder ins Bett’, sagte ich brüsk.
    Ich saß im Sessel und starrte das Telefon an.
    Als es klingelte, rührte ich mich nicht. Ich war wie paralysiert. Dreimal – viermal – fünfmal dieses schrille Läuten. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung nahm ich den Hörer ab. Zwei Stimmen sprachen englisch. Die eine Stimme war kühl, kommerziell, die andere warm und zärtlich. Es war Laura, die die Beträge der Münzeinwürfe wiederholte, die der Operator vorzählte. Sie wußte nicht, daß ich bereits mithören konnte. Als die Verbindung zustande gekommen war, wurde Lauras Stimme um eine Nuance härter. ‘Ich habe Phil alles erzählt’, sagte sie. ‘Es war schlimm. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich kann ihm doch nicht so weh tun. Am besten, ich verschwinde einfach aus euer beider Leben. Es ist doch furchtbar, sich entscheiden zu müssen. Entscheidungen sind immer dumm und grausam. Was soll ich nur machen?’
    Ich achtete kaum auf das, was sie sagte. Ich konzentrierte mich ganz auf die Melodie ihrer Stimme. ‘Laura’, sagte ich. ‘Ich liebe dich so sehr.’‘Ich verstehe dich nicht, du mußt lauter reden’, sagte sie. ‘Es ist mir so schwer, daß du bei deinem Mann bist, Laura. So weit weg.’‘Du mußt näher am Hörer sprechen. Du bist kaum zu verstehen.’
    Die Stimme des Operators mischte sich ein und kündigte das Ende des Gesprächs an. ‘Laura, ich liebe dich’, sagte ich mitten in das Klicken der Unterbrechung hinein, dem nun das Rauschen einer toten Leitung folgte.
    Wir fuhren zurück. Dabei hatte ich das groteske Gefühl, daß wir uns von Australien entfernten. Die meiste Zeit verbrachte ich auf dem Gang und starrte zum Fenster hinaus. Einige Male lief ich durch die Waggons bis zum Zugende, wie um mich Lauras Heimat zu nähern.
    Der Abschied von meiner Frau war freundlich. ‘Die Reise hat uns gutgetan’, meinte sie. ‘Wir sind uns nicht mehr so fremd.’
    Dann war ich wieder in meinem Zimmer. Ich warf mich aufs Bett und umklammerte Lauras Schlafsack, der dort noch lag. Ich vergrub das Gesicht in ihm und versuchte, ihren Körpergeruch aufzuspüren. Aber es roch nur nach Kunststoff und Zigarettenrauch.
    Später ging ich in Lauras Wohnung. Auf dem Tisch lag ein Brief von ihr. Offenbar in großer Eile geschrieben, die Schrift fahrig und auseinandergezogen. ‘Ich weiß nicht, was ich machen soll’, stand da. Es folgten eine ganze Reihe von Konjunktiven. Mitten zwischen den ‘Vielleichts’ und den Einschränkungen stand eine Liebeserklärung. Sie war so banal formuliert, daß ich sie glaubte.
    Ich ging die Wendeltreppe hoch, zog mich aus und legte mich in Lauras Bett. Das Bettzeug war klamm, und mir wurde nicht warm. Wie ein Alptraum drängte sich mir eine Vision auf. Ich sah eine endlose Flucht aller leeren Zimmer dieser Welt. Ein riesiges Labyrinth, durch Flure verbunden. Alle Türen standen offen. Nur die hauchdünne Tapete neben mir trennte mich vom Sog dieser Räume.
    Laura wachte vielleicht gerade in diesem Augenblick neben ihrem Mann auf. Ich wußte, wie sie aufwachte. Sie hatte die Angewohnheit, sich mit der Wange eine Mulde ins Kissen zu drücken. Dazu bewegte sie mit geschlossenen Augen ihren Kopf hin und her, mit der Genußfähigkeit eines Kindes.
    Ich schlief kaum. Am nächsten Morgen ging ich ins Museum hinüber. Der erste, der mir begegnete, war Labisch. ‘Da sind Sie ja endlich’, sagte er. ‘Wir haben Sie schon gestern erwartet. Sie sehen gar nicht gut aus. Haben Sie sich nicht erholt?’ Es kam mir vor, als redeten meine Eltern. ‘Wien hat zu viele Ecken’, sagte ich. ‘Was gibt es Neues im Haus?’
    ‘Der Herr Direktor möchte Sie sprechen. Er scheint von irgend etwas ganz angetan zu

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