Laurence Sterne: Tristram Shandy (Jubiläumsausgabe zum 300. Geburtstag des Autors) [kommentiert] (German Edition)
Zeiten und Länder gingen mit ihm. – Von hier an aber schlug er seinen eigenen Weg ein, und baute auf die Ecksteine, die jene vor ihm gesetzt hatten, eine neue Shandy'sche Hypothese – und welche besagte Hypothese gleichfalls ihren guten Grund hatte. Er fragte nämlich: ob die Zartheit und Feinheit der Seele von dem Wärmegrad oder der Helligkeit der besagten Flüssigkeit oder aber von dem feineren Netz und Gewebe im Cerebellum selbst abhänge? Letztere Ansicht war die seinige.
Er behauptete, dass nächst der pflichtschuldigen Umsicht, die man beim Zeugungsakte selbst haben müsse, der die grösste mögliche Sorgfalt erfordere, da hierdurch der Grund zu jenem unfassbaren Gewebe gelegt werde, auf welchem Verstand, Gedächtnis, Phantasie, Beredsamkeit und was man gewöhnlich unter guten natürlichen Anlagen versteht, beruhe, – dass also nächst dieser Umsicht und dem Vornamen, was die zwei ersten und hauptsächlichsten Ursachen von allem anderen seien; – die dritte Ursache oder vielmehr wie die Logiker sagen, die Causa sine quâ non , da ohne sie alles was sonst geschehen. ohne jede Bedeutung wäre, – in der guten Behütung jenes zarten und feingesponnenen Gewebes vor der Beschädigung bestehe, welche dasselbe durch das gewaltsame Zusammendrücken und Quetschen erleide, das der Kopf deshalb durchzumachen habe, weil man der unsinnigen Methode huldige, uns mit diesem voraus zur Welt zu befördern.
– Es erfordert dies eine nähere Erklärung.
Mein Vater, dem alle Arten von Büchern durch die Hand gingen, hatte, als er in den von Adrianus Smelvogt herausgegebenen Lithopädus Senonesis de Partu difficili [2] guckte, herausgefunden, dass, da die Knochen des Cranium bei der Geburt noch keine Nähte haben, der Kopf eines Kindes sich in einem so weichen und dehnbaren Zustande befinde – dass in Folge der gewaltsamen Anstrengungen, welche bei schweren Nöten im Durchschnitt einem Gewicht von 470 Pfund Krämergewicht gleichkommen, die senkrecht darauf wirken – es geschähe, dass in 49 Fällen unter 50 der besagte Kopf zu der Figur eines länglichen kegelförmigen Stückes Teig zusammengedrückt und geformt werde, wie ihn der Pastetenbäcker in der Regel rollt, wenn er eine Pastete machen will. – Guter Gott! rief mein Vater, wie muss hierdurch das unendlich feine und zarte Gewebe des Cerebellum beschädigt, ruiniert werden! – Oder wenn es einen solchen Saft gibt, wie Borri behauptet, muss dabei nicht die klarste Flüssigkeit der Welt trüb und dick werden?
Wie groß aber wurde erst seine Befürchtung als er weiter hörte, dass diese gerade auf den Kopfwirbel wirkende Kraft nicht nur das Gehirn selbst, das Cerebrum, beschädige – sondern auch notwendig das Cerebrum gegen das Cerebellum oder den unmittelbaren Sitz der Verstandeskräfte hindrücke und treibe! – O all ihr Engel und Diener der göttlichen Barmherzigkeit, schützt uns davor! rief mein Vater, – kann eine Menschenseele einem solchen Stoß widerstehen? – Da ist es kein Wunder, dass das Verstandsgewebe so zerrissen und zerfetzt ist, wie wir täglich sehen, und dass so viele unserer besten Köpfe innen nicht viel besser aussehen wie ein verwirrter Strang Seide – eitel untereinander und Konfusion!
Als mein Vater aber weiter las und mit dem Geheimnis bekannt wurde, dass wenn ein Kind umgewendet werde, was für einen Geburtshelfer eine leichte Sache sei, so dass es dann bei den Füßen herausbefördert werden könne – dann nicht das Cerebrum gegen das Cerebellum hingetrieben werde, sondern umgekehrt, das Cerebellum gegen das Cerebrum, wodurch keinerlei Beschädigung eintreten könne, – da rief er aus: Bei Gott! die Welt hat sich ja förmlich verschworen, das bisschen Verstand, das uns Gott gegeben hat, auszutreiben – und die Professoren der Geburtshilfe stecken mit im Komplott. – Was macht das mir, ob mein Sohn mit diesem oder jenem Ende zuerst auf die Welt kommt, wenn nur Alles gut dabei abläuft und sein Cerebellum nicht beschädigt wird!
Es liegt in der Natur der Hypothese, dass wenn man einmal eine solche empfangen hat, man ihr Alles und Jedes als passende Nahrung zuführt; und sie von dem erstem Augenblick ihrer Erzeugung in der Regel an allem wächst, was man sieht, hört, liest oder kennen lernt. Das ist sehr vorteilhaft.
Nachdem sie mein Vater einen Monat lang mit sich herumgetragen, gab es kaum noch irgend eine Erscheinung der Torheit oder des Genies, die er nicht sofort mittelst derselben zu lösen vermochte: – aus ihr
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