Lauter Bräute
schloß die Tür. Dann setzte er sich auf den Stuhl beim Fenster und starrte mich an. Ich saß bebend an meinem Schreibtisch. Das war wohl die Empörung, weil er jede meiner Bewegungen zu beobachten schien, und ich war wütend, weil er mich behandelte, als wäre ich kein mit menschlicher Vernunft und Verantwortung begabtes Wesen.
Ruhig sagte er: »Miß Evans, Sie haben vorhin einen Mann hier gehabt. Er weinte. Sie weinten. Warum?«
»Er war völlig aufgelöst. Seine Tochter hatte die Hochzeit abgesagt, und er brachte ihre Brautausstattung zurück.«
»Aha; und Sie versuchten wohl, ihn zu trösten.«
»Nein.«
»Was taten Sie also?«
»Ich wurde vom Empfang angerufen mit der Mitteilung, daß im Foyer ein weinender Mann saß. Ich ging hinaus, um zu sehen, was los war, fand ihn völlig verzweifelt, ein peinlicher Anblick für unsere Kundinnen. Ich mußte ihn aus dem Foyer entfernen, deshalb brachte ich ihn hierher. Er erzählte mir, warum er das Brautkleid seiner Tochter zurückbrachte; es war eine sehr traurige Geschichte. Er tat mir leid. Das ist alles.«
Kirkpatrick sagte: »Vor ein paar Minuten sah ich Sie wieder im Foyer, wieder in weinender Gesellschaft. Was war diesmal los?«
»Eine unserer Bräute kam mit einem Problem zu uns.«
»Und Sie gaben ihr einen Rat?«
»Ja, so gut ich konnte.«
Er seufzte. »Miß Evans, ich möchte Sie etwas fragen: Haben wir hier eine Eheberatungsstelle?«
Ich antwortete nicht.
Er fuhr fort: »Darf ich Ihnen einige harte Tatsachen erklären: Fellowes ist ein kommerzielles Unternehmen. Wir haben Verpflichtungen gegenüber unseren Aktionären. Es wird von jeder Abteilung dieses Hauses erwartet, daß sie Gewinn abwirft. Sie empfangen ein Gehalt dafür, daß Sie diese Abteilung so gewinnbringend wie möglich leiten. Es gehört nicht zu Ihren Pflichten, unglückliche Väter zu trösten oder Bräute mit Problemen zu beraten. Wir erwarten von Ihnen keine Eheberatung. Wir erwarten von Ihnen ganz einfach, daß Sie die Arbeit tun, für die Sie bezahlt werden, nichts weiter.«
Ich verharrte schweigend. Ich mußte schweigen.
Das machte ihn unsicher. »Nun?« sagte er. »Haben Sie etwas dazu zu bemerken?«
Ich sah ihn an. Er runzelte mißtrauisch die Stirn. »Ja, ich habe etwas dazu zu sagen. Ganz offensichtlich sind Sie mit meiner Arbeit nicht zufrieden. Ich werde mit dem größten Vergnügen meine Kündigung schreiben. Damit ist Ihnen dann sicher eine Last von der Seele.«
Er bemühte sich, ruhig und vernünftig zu sprechen: »Ich habe Sie nicht um Ihre Kündigung gebeten. Ich habe Sie lediglich gebeten, in Zukunft nicht mehr jedem, der hier ankommt, Gratisratschläge zu erteilen. Ich möchte nicht, daß Sie die Leute ermutigen, hier überall herumzuweinen.«
»Außerdem verlangen Sie von mir, ich soll verhindern, daß Bräute in den Anproben ohnmächtig werden, daß Bräute mit Fotografen durchbrennen und daß Bräute hysterische Anfälle bekommen, weil ihre Kleider nicht gleich zu finden sind. Warum schließen Sie die Abteilung Brautausstattungen nicht gänzlich, Mr. Kirkpatrick, ein für allemal? Sie ist doch nur ein Ärgernis.«
»Jetzt werden Sie anmaßend, Miß Evans.«
»Es ist durchaus nicht meine Absicht, anmaßend zu sein. Aber Sie haben mir soeben harte Tatsachen erläutert. Darf ich Ihnen diese Tatsachen nun aus meinem Gesichtswinkel erläutern. Wissen Sie, wie viele Brautausstattungen wir im vergangenen Jahr geliefert haben?«
»Das hat nichts mit — «
»Das hat alles mit dem zu tun, was hier zur Diskussion steht. Vergangenes Jahr haben wir Ausstattungen für mehr als zweitausend Bräute geliefert. Bräute, Mr. Kirkpatrick, Mädchen, Frauen, die heiraten wollten. Und wissen Sie was? Nicht eine einzige von ihnen war kühl, ruhig oder ausgeglichen. Sie waren aufgeregt. Sie waren angespannt. Die meisten waren überströmend glücklich. Einige hatten Angst. Sie wußten nicht, ob sie das Richtige taten. Sie alle hatten Probleme, die mit ihrer Heirat zusammenhingen — kleine oder große — und sie alle mußten darüber sprechen.«
Er lächelte. »Mit Ihnen?«
»Mit mir, mit den Beraterinnen, den Absteckerinnen, mit jedem, der bereit war zuzuhören. Sie können Frauen nicht hindern zu reden, Mr. Kirkpatrick.«
»Oder zu weinen?«
»Oder zu weinen. Oder ohnmächtig zu werden, hysterische Anfälle zu bekommen oder sich zu übergeben. — Sehen Sie es einmal von dieser Seite, Mr. Kirkpatrick: nehmen wir an, neunzig Prozent unserer Bräute sind normale weibliche
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