Lauter Bräute
Morgen«, sagte ich so nett ich konnte.
»Guten Morgen.« Er holte tief Atem. »Miß Evans — «
»Wissen Sie, Mr. Kirkpatrick, ich glaube, wir werden heute schrecklich viel zu tun bekommen. Wir werden alle zusätzlichen Stühle brauchen, die wir finden können. Erinnern Sie sich, wie es vergangenen Samstag war? Heute könnte das Gedränge sogar noch schlimmer werden.«
»Ich werde mit der Hausverwaltung sprechen«, sagte er. Dann straffte er die Schultern. »Miß Evans, ich möchte Ihnen gern — «
»Ich glaube, wir sollten Stühle rund um den großen Tisch in der Mitte stellen. Was meinen Sie? Wir müssen den Empfang freihalten, damit wir da den Verkehrsstrom nicht behindern, aber —«
Ungeduldig unterbrach er mich: »Miß Evans, würden Sie die Freundlichkeit haben, mir einen Augenblick zuzuhören?«
Ich hörte auf zu schnattern. Mir war klar, daß wir an einem Krisenpunkt angelangt waren; aber ich hatte noch immer keine Ahnung, was er sagen würde, und fühlte, wie ich blaß wurde. »Ja?«
»Ich hätte Sie beinahe Donnerstagabend zu Hause angerufen«, begann er. »Ich war zu Hause, Mr. Kirkpatrick. Warum haben Sie denn nicht angerufen, wenn Sie es wollten?«
»Weil ich glaube, nicht das Recht zu haben, außerhalb der Arbeitszeit in Ihr Privatleben einzudringen.«
Ich lächelte ihm freundlich zu. »Wenn es sich um etwas Wichtiges handelt, haben Sie jederzeit das Recht, mich anzurufen.«
»Es war wichtig genug. Ich wollte mich für mein schandbares Benehmen in Ihrem Büro entschuldigen.«
»Oh, bitte, Sie müssen nicht sagen, daß es schandbar...«
»Es war völlig unverzeihlich«, beharrte er verbissen. »Wenn ich einen männlichen Angestellten des Hauses in einer ähnlichen Situation anträfe, würde ich ihn auf der Stelle hinauswerfen. Wir können ein solches Benehmen nicht dulden. Ich möchte Ihnen sagen, daß es mir leid tut, Sie in Verlegenheit gebracht zu haben, und ich hoffe, Sie nehmen meine Entschuldigung an.«
Ich hatte gemeint, daß er mich küßte, weil er sich zu mir hingezogen fühlte, weil er mich gern küssen wollte, weil er nicht anders konnte; weil in jenem Augenblick etwas zwischen uns vorging, das ihn dazu trieb, mich in die Arme zu reißen und mit Küssen zu überschütten. Offenbar hatte ich mich geirrt. Offenbar betrachtete er das, was geschehen war, als unzüchtige, kleine Flegelei, für die er sich selbst am liebsten hinausgeworfen hätte. Und ich war einfach wütend auf ihn — es war keine unzüchtige Flegelei mir gegenüber gewesen, und ich war außer mir, daß er es mit schandbar und unverzeihlich bezeichnete.
»Nun, Miß Evans?« fragte er.
»Was, Mr. Kirkpatrick?«
»Sie haben mir noch nicht geantwortet. Nehmen Sie meine Entschuldigung an?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ja.«
»Danke. Dann möchte ich Sie jetzt fragen, ob Sie heute abend mit mir essen gehen wollen?«
Der Mann konnte einen tatsächlich in Rage bringen. Nun, an diesem Spiel konnten zwei mitspielen. Wütend schnappte ich: »Nein.«
In der Sekunde, als ich es sagte, hätte ich mir am liebsten die Zunge abgebissen. Ich wußte, daß ich einen der größten Fehler meines Lebens begangen hatte, und ich betete beinahe laut, er möge mich noch einmal fragen. Er tat es nicht. Er nickte, als habe er genau diese Antwort erwartet, und sagte dann mit seiner offiziellsten Stimme: »Ich werde mit der Hausverwaltung wegen der zusätzlichen Stühle sprechen.« Damit rasselte er davon.
In einem Punkt hatte ich mich jedenfalls nicht geirrt. Kaum war das Geschäft geöffnet, begannen die Bräute sich in breiter Front heranzuwälzen, und es ließ sich ausrechnen, daß wir den hektischsten Tag unserer Geschichte haben würden. Um zehn Uhr war das Foyer voll; in allen Anproben saßen Bräute, umgeben von Müttern, Schwestern und Freundinnen; und die große Anprobe barst fast mit einer Belegschaft von einer Braut plus acht Brautjungfern und genügend Verwandten, um einen eigenen unabhängigen Staat auf die Beine zu stellen. Um halb elf hatte sich eine Schlange gebildet, die sich von unserem Torbogen bis Modehüte erstreckte und von Minute zu Minute länger wurde.
Ich nahm meinen herkömmlichen Platz vor dem Empfang ein, wo ich mit jeder neuen Kundin einige Worte wechseln und die notwendigen prüfenden Fragen stellen konnte. Natürlich hätte Vivienne Gordon das ebensogut machen können; doch ich hatte das kindische Gefühl, zum letzten Mal eine mir liebgewordene Rolle zu spielen, und ich wollte sie bis zu Ende
Weitere Kostenlose Bücher