Lauter reizende alte Damen
an jemanden denkt und sich fragt, wo dieser Mensch nun ist, wie sich sein Leben entwickelt hat…« Sie fuhr mit der Hand durch die Luft. Dann fragte sie plötzlich: »Möchten Sie einen Hering?«
»Einen Hering?«
»Ach, ich hab zufällig ein paar Heringe. Und ich dachte, Sie sollten was essen, ehe Sie zum Bahnhof fahren. Waterloo ist übrigens der Bahnhof für Sutton, Chancellor. Man musste in Market Basing umsteigen. Das wird sich nicht geändert haben.«
Tommy spürte, dass er entlassen war.
13
T uppence blinzelte. Sie sah wie durch einen Schleier. Sie versuchte, den Kopf vom Kissen zu heben, zuckte aber unter dem stechenden Schmerz zusammen. Sie ließ den Kopf wieder sinken und schloss die Augen. Bald darauf machte sie sie wieder auf und blinzelte abermals.
Mit dem Gefühl der Genugtuung erkannte sie ihre Umgebung. Sie war in einem Krankenhaus, und ihr Kopf tat ihr weh. Warum er wehtat und warum sie im Krankenhaus war, wusste sie nicht. Unfall? überlegte sie.
Krankenschwestern hantierten an Betten. Das war wohl natürlich. Tuppence machte die Augen zu und dachte vorsichtig nach. Das verschwommene Bild eines älteren Geistlichen tauchte vor ihr auf. Hieß er »Pater«? Sie konnte sich nicht erinnern.
Aber wieso bin ich krank in einem Krankenhaus? dachte Tuppence. Wenn ich als Schwester in einem Lazarett arbeite, müsste ich eine Tracht tragen, Schwesterntracht.
Sie seufzte tief auf.
Sofort erschien eine Schwester neben ihrem Bett. »Na, geht’s uns besser?«, fragte sie mit falsch klingender Fröhlichkeit. »Das ist fein.«
Tuppence war sich nicht klar, ob es fein war. Die Schwester sprach von einer feinen Tasse Tee.
»Soldaten«, sagte Tuppence. »Schwestern. Natürlich, ich bin Schwester in einem Lazarett.«
Die Schwester brachte ihr Tee in einer Schnabeltasse und stützte sie beim Trinken. Wieder fuhr der stechende Schmerz durch ihren Kopf. »Klar, ich bin Schwester im Lazarett«, sagte Tuppence laut.
Die Krankenschwester sah sie begriffsstutzig an.
»Mein Kopf tut weh«, sagte Tuppence und lieferte damit Tatsachen.
»Es wird bald besser werden.« Die Schwester nahm die Tasse fort und sagte beim Hinausgehen zu einer anderen Schwester: »Nummer 14 ist wach. Aber ich glaube, sie ist ein bisschen wirr.«
»Hat sie etwas gesagt?«
»Unverständliches Zeug.«
Tuppence lag benommen in ihrem Bett. Kurze Gedanken huschten in unordentlicher Prozession durch ihren Kopf. Jemand müsste da sein, das wusste sie, jemand, den sie gut kannte. Dieses Lazarett war so seltsam. Es war nicht das, an das sie sich erinnerte und in dem sie selbst gepflegt hatte. Da waren nur Soldaten gewesen… Sie machte die Augen auf und sah sich noch einmal um. Nein, diesen Raum kannte sie nicht.
»Ich möchte wissen, wo das hier ist«, sagte sie. Sie versuchte, sich an Namen zu erinnern. Es fielen ihr nur zwei ein: London und Southampton.
Die Oberschwester stand plötzlich neben ihrem Bett. »Ich hoffe, es geht Ihnen besser.«
»Danke, es geht«, sagte Tuppence. »Was ist mit mir?«
»Sie haben eine Kopfverletzung. Es muss ziemlich schmerzhaft sein.«
»Es tut weh«, stellte Tuppence fest. »Wo bin ich?«
»Im Royal Hospital in Market Basing.«
Tuppence überdachte diese Auskunft. Sie sagte ihr gar nichts. Dann verkündete sie: »Ein alter Geistlicher.«
»Wie bitte?«
»Ach nichts, ich meinte nur.«
»Wir konnten Ihren Namen noch nicht eintragen…« sagte die Oberschwester. Sie hatte einen Kugelschreiber gezückt und sah Tuppence forschend an.
»Meinen Namen?«
»Ja. Für unser Krankenblatt.«
Tuppence grübelte nach. Ihr Name. Was für einen Namen hatte sie? – Wie dumm! sagte sie zu sich selbst. Ich muss ihn vergessen haben. Aber ich muss doch einen Namen haben! Plötzlich überkam sie ein Gefühl der Erleichterung. Wieder tauchte das Gesicht des Geistlichen vor ihr auf. Sie sagte: »Natürlich. Prudence.«
»P-r-u-d-e-n-c-e?«
»Jawohl.«
»Das ist Ihr Vorname. Und der Familienname?«
»Cowley. C-O-W-L-E-Y.«
»Wie gut, dass wir das nun wissen«, sagte die Oberschwester. Sie entfernte sich mit zufriedenem Gesicht. Ihr Krankenblatt stimmte.
Tuppence war ebenfalls zufrieden mit sich. Prudence Cowley; sie pflegte im Lazarett; und ihr Vater war Geistlicher in irgendeiner Gemeinde – der Name fiel ihr nicht ein –, und es war Krieg. »Komisch«, murmelte sie. »Als ob es vor langer Zeit passiert wäre.« Dann sagte sie: »War es Ihr armes Kind?«
Die Schwester war schon wieder da. »Ich brauche noch
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