Lautlos im Orbit (1988)
mit wundervollen, versonnen blickenden blauen Augen und dunklem Haar, das sie zu zwei langen Zöpfen geflochten trug, eine angehende Wissenschaftlerin mit messerscharfem Verstand einerseits, zum anderen ein verträumtes Kind, das auf die vom Himmel fallenden Wundertaler zu hoffen schien.
Er liebte sie, wie er Sandy geliebt hatte, tief und ausschließlich, und doch war mit ihr alles anders, irgendwie rationaler. Sie verlor sich nie, blieb immer sie selbst; was bei Sandy totale Hingabe gewesen war, zeigte sich bei ihr als freundliches Entgegenkommen auf gemeinsamer Basis. Er hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, daß sie ihn ebenfalls liebte, aber ihre Liebe war eine andere als die Sandys, Jarina gab nicht nur, sie nahm auch, und das mit natürlichem Selbstbewußtsein. Dann wieder konnte sie stundenlang vor sich hin träumen.
Manchmal nahm er sich die Zeit, um mit Jarina hinaus vor die Stadt zu fahren und die Weite des flachen Landes zu genießen, über das meist ein weicher Wind strich, der die Gerüche des Meeres im Norden mit sich trug. Meist schwiegen sie, wenn sie an solchen Tagen nebeneinanderher gingen oder miteinander im Gras lagen, und das war ein Schweigen, das nichts Trennendes hatte, sondern verband. Es war, als befänden sie sich im Inneren einer gemeinsamen Hülle, deren durchsichtige Haut sie von allem, was außerhalb von ihnen war, abschied.
An einem der schönsten Tage des Jahres, als sich auf den Wiesen um Pskow eben die violetten Blüten der Kuhschelle zu öffnen begannen, schauten sie, im sanft wogenden Gras liegend und träumend, den weißen Sommerwolken nach, die wie grotesk verformte Schiffe nach Norden zogen. Irgendwann, sagte er sich, werden sie vielleicht auch über Iverton hinwegziehen, und Sandy wird zu ihnen emporblicken. Kann sein, daß ihre Gedanken dann den Wolken entgegen nach Süden ziehen wie die seinen mit ihnen nach Norden. Ach, Sandy!
Da fiel ein Schatten auf sein Gesicht. Jarina hatte sich halb aufgerichtet, stützte sich auf einen Ellenbogen und sah ihn an. Zwischen ihren Lippen wippte ein Grashalm, und das Ende ihres Zopfes pendelte hin und her.
»War es schlimm, das Leben dort oben im Norden?« fragte sie leise, ohne den Halm aus dem Mund zu nehmen.
Er war nicht erstaunt, daß sie um seine Reise mit den weißen Wolken wußte, er hatte oft erfahren, wie leicht es anderen fiel, in seinen Gedanken und Gefühlen zu lesen. Was ihn aber verdroß, war, daß ihn auch hier, während er an der Seite eines Mädchens im Gras lag, seine Vergangenheit einholte. »Es ist meine Heimat«, sagte er spröde.
Sie schüttelte den Kopf. »Es war deine Heimat«, korrigierte sie. »Jetzt hast du eine neue gefunden.«
Er schwieg. Wozu sollte er ihr erklären, daß er niemals wieder eine Heimat haben würde? Weder hier noch anderswo. Daß sein Leben von nun an immer nur aus Zwischenstationen bestehen würde. »Weshalb wärst du sonst ausgerechnet hierhergekommen?« fuhr sie fort.
Dem Ton ihrer Stimme war zu entnehmen, daß sie sich für die Gründe interessierte, die ihn in dieses Land, an diesen Ort geführt hatten. Er würde sie enttäuschen müssen. »Es war nicht meine Entscheidung«, sagte er und schloß die Augen. Er mochte ihre Enttäuschung nicht sehen. Und als sie schwieg, ein stummer Schatten auf seinen geschlossenen Lidern, setzte er hinzu: »Und es ist auch nicht das erste Land, in dem ich…« Er unterbrach sich, plötzlich erschien es ihm unklug, ihr davon zu berichten, daß man ihn von Land zu Land weitergereicht hatte, um seine Spuren zu verwischen. »Aber es ist wunderschön hier«, flüsterte er statt dessen, »wirklich wunderschön.« Und dabei sah er wieder den stillen Soldaten vor sich auf der Straße liegen, einen dunklen Fleck auf schwarzem Asphalt.
Sie beugte sich weiter herab über sein Gesicht und küßte ihn. Ganz leicht nur berührten ihre Lippen die seinen, und damit deutete sie ihm an, daß sie seine Absicht, ihr eine Freude zu bereiten, indem er ihre Heimat lobte, sehr wohl bemerkt hatte.
Er sprang auf. »Laß uns gehen«, sagte er abrupt. »Auf uns wartet eine Unmenge Arbeit.«
An ihrem verweisenden Lächeln erkannte er, daß es ihr abermals gelungen war, seinen Gedanken zu folgen.
Vor den Fenstern ihres Zimmers im Studentenheim hatte sie schneeweiße Draperien angebracht, die sie als Wolkenstores bezeichnete. Wenn er dieses weiße Wunder lange genug betrachtete, dann begannen sich manchmal dessen Formen umzuordnen, oft zu seltsam aufdringlichen
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