Lautlos wandert der Schatten
Strecken, die alles von uns abforderten, was wir noch an Reserven hatten;
Stunden, die uns bis zum Letzten herausforderten. Da trugen uns die Füße noch,
aber die Gedanken wollten bleiben. Die Frage nach dem Sinn machte die Zweifel
locker, die den einsamen Wanderer zu überwältigen drohen. Durststrecken im
wahren Sinne des Wortes, wenn der akute Wassermangel in der Hitze der kastilischen
Hochebene dazu kam. Im flimmernden Licht, das den Augen weh tat, merkten wir,
wie unsere Zeit zerrann und die Weltgeschichte festzustehen schien. Der Weg
wurde leichter und erträglicher, wenn wir uns daran erinnerten, daß ihn andere
vor uns gegangen waren. Wenn wir vor einer Steigung standen, wenn wir eine
Schlucht durchqueren mußten, wenn die Hitze uns anbrüllte, sobald wir aus dem
Schatten traten, und die Sonne uns verbrannte, wenn sich unsere Beine nach
einer Rast sehnten, dann hat uns das Wissen um die anderen vor uns viel
geholfen. Selbst für unseren letzten Weg wird das eine tröstliche Erfahrung
sein: andere haben es auch geschafft. Sie sind uns vorausgegangen, wir folgen
ihnen nach. Ihr Vorausgehen ist wie ein Zeichen, eine Wegmarke, ein Kreuz, auf die
wir uns verlassen konnten, um den Weg zu finden. Andere haben den Weg, den wir
gehen, für uns gebahnt; und wir legen eine Spur, auf der wieder andere folgen
können.
Natürlich
waren wir begierig, zu wissen, was die anderen auf den Weg gebracht hatte. Da
trafen wir auf Jan, der lange Jahre mit seiner Frau im Kongo Entwicklungshilfe
leistete. Jetzt waren die Kinder aus dem Haus und die beiden hatten sich nichts
mehr zu sagen. Da machte er sich auf; Tag für Tag teilte er mit seiner Frau die
Erlebnisse des Weges. Sie ging mit seinen Augen den ganzen Weg mit. Tag für Tag
wurde der Bericht auch im Gottesdienst der Heimatpfarrei vorgelesen. So war
eine ganze Gemeinde mit auf Pilgerfahrt.
Da
war Toine, der Niederländer, der uns ins Pilgerbuch schrieb: „Die Stille und
die Einsamkeit des langen Weges stellt alles in ein klares Licht, so daß das
Belanglose vom Belangvollen geschieden wird.“ Wir gingen ein Stück weit mit dem
lustigen Spanier José, der wegen seiner vielen Blasen an den Füßen wie auf
Eiern dahertänzelte und gar nicht so recht wußte, aus welchem Grund er den
Pilgerweg begonnen und ob er ihn vollenden würde. Und da war noch Trini, die
junge Frau aus Pamplona, die von der Hoffnung getrieben war, unterwegs Christus
wieder zu finden, den sie in der Stadt verloren hatte.
Aber
auch das ist der Sinn des Weges: Das Leben jenes Wanderpredigers zu begreifen,
der 22 Monate durch Palästina zog, um die Frohe Botschaft vom Reich Gottes zu
verkünden. Alle Menschen, lehrte er, sollten sich auf den Weg machen, um dieses
Reich zu suchen. Sie sollten so lange gehen und suchen, bis sie begreifen
konnten, daß dieses Reich mitten unter uns ist. Wir fingen an, Jesus von
Nazaret zu verstehen, der von sich gesagt hatte: „Ich bin der Weg, die
Wahrheit, das Leben“ (Joh 14,6). Wir wollten spüren, daß es nicht nur ein Wort
ist, daß es wahr ist, wenn wir sagen: Er geht mit uns durch unser Leben. Wir
hoffen, daß diese Erfahrung uns so trägt, daß wir beten können: „Muß ich auch
wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, du bist ja bei mir,
dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht“ (Ps 23). Nachfolge Jesu als ein
Akt der Befreiung von unseren Ängsten.
Die Spur
Einem
Menschen
ward
das Versprechen Gottes zuteil,
er
werde ihn allezeit begleiten,
komme, was da wolle.
Der
Mensch sah zum Beweis
des
göttlichen Versprechens
neben
seiner Fußspur im Sand
eine
zweite, die Spur Gottes.
Doch
als es jenem Menschen
einmal
besonders schlecht ging
und
er nur noch eine, wie er meinte,
seine
Fußspur sah,
da
haderte er mit Gott.
Doch
der gab ihm zur Antwort:
Mein
Kind,
als
es dir schlecht ging
und
du nur eine Spur
sehen
konntest im Sand –
da
habe ich dich getragen.
Unser
Weg geht weiter ins Land Rioja mit seinen berühmten Weinen, die wir natürlich
verkosten, über Irache, einst das wichtigste Kloster im Land, das den Mauren
abgerungen worden war, über Los Arcos und Viana nach Logroño in Kastilien. Die
Landschaft des einstigen Königreichs Navarra beeindruckte durch den ständigen
Wechsel. Die Dörfer sind auf die Kuppen der Berge getürmt, noch einmal überragt
von der Kirche. Sie thront wie eine Henne über den Küken. Erst im Näherkommen
zeigt sich ein schmaler Durchschlupf durch die eng bebauten Gassen. Am
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