Lautlose Jagd
Vielleicht würde es uns gelingen, einen Bruchteil davon mit unseren von den Amerikanern geliehenen Fla-Lenkwaffen Patriot abzuschießen, aber selbst wenn Seoul nur von einer einzigen Rakete getroffen würde, müssten Hunderttausende unserer Bürger sterben.«
»Aber was schlagen Sie vor, Herr Präsident?«, fragte ein anderer Parteivorsitzender. »Die Friedensgespräche sind wieder unterbrochen. Die Vereinigten Staaten halten die zugesagte Lieferung von Heizöl und Weizen zurück, bis der Norden an den Verhandlungstisch zurückkehrt und einer Inspektion der im Bau befindlichen Anlagen in Jongbjon zustimmt...«
»Was zwei Bedingungen sind, die nicht Bestandteil des 1994 geschlossenen Rahmenvertrags waren«, stellte Kwon gereizt fest.
Der Rahmenvertrag, ein Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten, den beiden Koreas, Japan und weiteren Weltmächten, sicherte Nordkorea über ein Jahrzehnt hinweg insgesamt eine Billion Dollar Wirtschaftshilfe zu. Als Gegenleistung würde Nordkorea seine alten Brutreaktoren sowjetischer Bauart, die waffenfähiges Material erzeugten, stilllegen und abbauen. Aber dieses Abkommen hatte praktisch von Anfang an mit Problemen zu kämpfen gehabt. »Bei allem gebotenen Respekt vor unseren mächtigen amerikanischen Verbündeten muss gesagt werden, dass sie den Friedensprozess gefährden, wenn sie dem Norden ohne Konsultationen oder Verhandlungen solche Bedingungen stellen. Meiner Ansicht nach haben die amerikanischen Bedingungen rein innenpolitische Gründe. Damit haben unsere amerikanischen Verbündeten sich und uns keinen Gefallen getan.
Aber wir erkennen jetzt, wie falsch unsere bisherige hinhaltend taktierende Beschwichtigungspolitik war«, fuhr Kwon fort. »Wir haben Lebensmittel, Heizöl und sonstige Hilfsgüter im Wert von Milliarden Yuan nach Norden geschickt, wir gestatten immer mehr Verwandtenbesuche, wir sehen weg, wenn ihre Spione und Mini-U-Boote an unseren Küsten stranden. Und was tut der Norden? Er baut Raketen mit zwe itausend Kilometer Reichweite, um sie ins Ausland zu verkaufen und uns und unsere Nachbarn zu bedrohen - und besitzt sogar die Frechheit, eine davon mit einem Flug über unsere Köpfe hinweg zu testen! Jetzt entdecken wir, dass er über Kernwaffen verfügt und seine verhungernden Soldaten in ihrer Verzweiflung bereit sind, sie tatsächlich einzusetzen.
Der Norden zerfällt und droht, unser Land mit sich zu reißen, wenn nicht sofort etwas unternommen wird.
Die angespannte politische und finanzielle Situation im Norden hat nun offenbar auch das Militär erfasst, und darin liegt eine weit größere Gefahr als in der früheren Situation zwischen Ost- und Westdeutschland. Die ehemalige DDR war so sehr von der Sowjetunion abhängig, dass eine selbstständige Militäraktion fast undenkbar war. Aber Nordkorea unterliegt keinen derartigen Einschränkungen. Niemand hält den Norden an der Leine. China und Russland haben sich längst von ihrem missratenen, gemeinsamen Kind losgesagt. Ihr Kind ist jetzt zu einem unberechenbaren, ausgehungerten, rachsüchtigen und pathologischen Ungeheuer herangewachsen. Dieses Monster muss gestoppt werden!«
Die Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats schwiegen. Sie wussten, dass Präsident Kwon Recht hatte. Sie wussten, was getan werden musste - aber niemand wagte es auszusprechen oder auch nur zu denken. Alle überließen es Kwon, die Worte zu sagen und die Entscheidung zu verkünden, die ihr Schicksal verändern konnte.
»Die Zeit ist gekommen, unseren Plan in die Tat umzusetzen, meine Freunde«, stellte Kwon fest. »Unsere Streitkräfte befinden sich unmittelbar vor und während des Manövers Team Spirit in höchster Alarmbereitschaft. Außerdem üben dann japanische und amerikanische Luft- und Seestreitkräfte in unserem Luftraum und in koreanischen Gewässern. Das ist der ideale Zeitpunkt.«
»Aber ist der Norden zum Losschlagen bereit?«, fragte der Verteidigungsminister.
»Das ist er vermutlich schon jetzt«, sagte Kwon. »Aber die Last des Handelns haben nicht nur die im Norden zu tragen - auch wir werden reagieren müssen. Wenn die Zeit kommt, müssen wir bereit sein.«
»Was ist mit Pak Chung-chu?«, fragte ein anderes Mitglied des Sicherheitsrats. »Hält Pak zu Ihnen, wenn die Zeit gekommen ist?«
»Das werden wir gleich feststellen.« Kwon griff nach dem Hörer des vor ihm stehenden Telefons und wies die Vermittlung an, ihn mit einer Geheimnummer in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang zu verbinden.
Über dem
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