Lautlose Jagd
sowieso schon tief in der Scheiße. Setzen Sie die Erprobung an. Ich besorge Ihnen das Geld für einen Test und komme selbst zu Ihnen raus, um dieses Lancelot-Ding in Aktion zu sehen. Ich brauche ohnehin etwas Flugzeit. Aber es funktioniert hoffentlich, mein Freund, sonst landen Sie so schnell auf der Straße, dass Ihnen schwindelig wird.«
Blaues Haus,
Präsidentenpalast der Republik Korea,
Seoul, Südkorea
(zur gleichen Zeit)
Der Vortrag war eben zu Ende gegangen; der vollständige Bericht lag vor jedem Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats, des höchsten für Verteidigungsfragen zuständigen Gremiums der Republik Korea. Die an dem langen Konferenztisch versammelten Männer waren wie vor den Kopf geschlagen; sie konnten kaum glauben, was sie gehört hatten.
»Die Krise im Norden hat offenbar gefährliche, sogar epidemische Ausmaße angenommen, meine Freunde«, sagte Präsident Kwon Ki-chae mit leiser, eintöniger Stimme. »Jetzt ist die Zeit gekommen, entschlossen zu handeln.«
Das Wahlmännerkollegium hatte Kwon vor weniger als einem Jahr zum Präsidenten gewählt, nachdem der betagte Präsident Kim Yongsam durch ein Misstrauensvotum der Nationalversammlung gestürzt worden war. Der kleine, drahtige Harvard-Absolvent Kwon, der weit jünger als die übrigen Mitglieder des Sicherheitsrats war, gehörte zu den bekanntesten Politikern Südkoreas - jedoch nicht wegen seiner Klugheit oder seines tiefen Verständnisses für Innen- und Außenpolitik. Hinter Kwon stand die mächtige südkoreanische Großindustrie, die ihn systematisch für das hohe Amt aufgebaut hatte, das er jetzt bekleidete. Nach eigenem Verständnis vertrat er nicht »das neue Südkorea«, sondern »das neue Korea«.
Kwon, Vorsitzender der ultrakonservativen Demokratischen Volkspartei und langjähriges Mitglied der Nationalversammlung, hatte eine labile Koalition zusammengebracht, die seine Ideen für eine Wiedervereinigung der koreanischen Halbinsel und eine härtere Gangart im Verhältnis zu Nordkorea unterstützte. Die 30 Mitglieder des Staatsrats, von denen viele auch dem Nationalen Sicherheitsrat angehörten, vertraten seine Linie. Bis vor kurzem hatte jedoch kein Mitglied der südkoreanischen Regierung, auch die mächtigsten Minister nicht, wirklich etwas bewirken können, um den trägen, gefährlichen Kurs des politischen, gesellschaftlichen und militärischen Patts zwischen den beiden koreanischen Staaten zu ändern.
Jetzt witterte Kwon seine Chance. Diese Männer waren zu Tode erschrocken und brauchten jemanden, der ihnen den rechten Weg wies.
»Atombomben, meine Freunde«, begann Kwon, indem er beide Hände auf den Tisch legte und seinen Kollegen nacheinander ins Gesicht sah. »Keine bloße Vermutung, keine unbestätigte Geheimdienstmeldung mehr, sondern eine Realität. Der Norden verfügt nicht nur über die Technologie zur Herstellung von Kernwaffen, sondern besitzt Atombomben und die Mittel, sie ins Ziel zu bringen. Dies ist die kritischste und gefährlichste Situation auf der koreanischen Halbinsel seit der japanischen Invasion.«
»Das dürfte übertrieben sein, Herr Präsident«, sagte Park Hyo-un, Vorsitzender der Vereinigten Volkspartei für Politikreform.
Die VVPPR war eine kleine, aber rasch wachsende Oppositionspartei; sie hatte die Zahl ihrer Sitze in der Nationalversammlung in nur zwei Jahren mehr als verdoppelt. Obwohl sie noch keine Gefahr für Kwons regierende DVP darstellte, war Abgeordneter Park mit den Vorsitzenden aller übrigen südkoreanischen Parteien zu dieser Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats geladen worden, weil Kwon Solidarität und rückhaltlose Offenheit demonstrieren wollte. »Sehen Sie sich Ihre Geheimberichte an. Der nordkoreanische Pilot war vor dem Verhungern, sein Flugzeug wurde mühelos geortet und abgefangen, und er hatte nicht genug Treibstoff, um seinen Auftrag auszuführen oder gar nach Norden zurückzukehren, selbst wenn es ihm irgendwie gelungen wäre, unserer Luftverteidigung zu entkommen.«
»Lauter triftige Argumente, Herr Park«, bestätigte Präsident Kwon. »Vielleicht war das Ganze nicht mehr als der verzweifelte Versuch eines verhungernden Verrückten, zu Ruhm und Ehre zu gelangen oder auf diese Weise Selbstmord zu begehen. Aber ich denke, dass dahinter mehr steckt. Ich glaube, dass wir diesmal noch Glück gehabt haben. Der nächste Angriff könnte mit einer einzelnen Rakete des Typs Nodong oder mit einem Dutzend oder hundert Raketen erfolgen - alle mit Kernsprengköpfen.
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