Lautlose Jagd
oder »Ich bin in den nächsten paar Stunden beim Zielstudium.« Da sie in Flughafennähe lag, stiegen Besatzungsmitglieder auch gern die Treppe zu ihrem Flachdach hinauf, um die Flugzeuge starten und landen zu sehen.
Dies war das erste Mal seit dem Unfall, dass Rinc Seaver wieder in der Bar war. Vorn im Lokal gab es sechs Tische, einige Sitznischen, mehrere Kartentische, ein paar Spielautomaten und Video-Poker-Geräte und die Bartheke. Im Lauf der Jahre war es mit Fotos, Büchern, Abzeichen und sonstigen Erinnerungsstücken von Einheiten der Air National Guard, die in Reno stationiert waren, und Besuchern aus aller Welt geschmückt worden. Jeder neue Gast musste seinen oder ihren Namen an die Wand schreiben, wobei die meisten sich für die Toilette des anderen Geschlechts entschieden. Autogramme auf der Bartheke blieben VIPs oder hohen Offizieren vorbehalten. Wer das Pech hatte, das Lokal mit einer Krawatte oder Mütze zu betreten, bekam sie abgeschnitten oder weggenommen; an den Deckenbalken hing eine riesige Sammlung solcher Trophäen.
Hinter der Bar, oben im Regal mit den teuren Spirituosen, sah Rinc ein vollständiges Betriebshandbuch für die B-1B stehen, das bestimmt auf dem neuesten Stand war. Daneben standen die Betriebshandbücher aller Flugzeugmuster, die die Nevada Air National Guard seit ihrer Gründung im Jahr 1946 geflogen hatte: Jäger P-39, P-40, P-51, T-33 und F-86, Aufklärer RB-57, RF-101 und RF-4, Transporter C-130 Hercules, alle ebenso perfekt aktualisiert.
Nach hinten hinaus lag das Billardzimmer mit Spielautomaten, Videospielen, Zeitungen und Computern. Zutritt hatten nur Angehörige aller Dienstgrade der Staffel Aces High.
Martina - ihren Nachnamen wusste niemand - stand wie üblich hinter der Theke. Sie gehörte praktisch zum Inventar ihres Lokals, in dem sie eindeutig das Kommando führte. Martina wog über 110 Kilo und hätte hier ebenso gut den Rausschmeißer spielen können. Gerüchteweise hieß es, manche Piloten beglichen hohe Zechschulden, indem sie Martina an Bord ihrer Flugzeuge schmuggelten. Sie kam angeblich auf über 100 Stunden in der RF-4 Phantom, obwohl man sich kaum vorstellen konnte, wie sie sich in den Sitz gequetscht haben sollte.
»Hey, Rodeo«, begrüßte sie Seaver, als habe sie ihn erst gestern gesehen, und schenkte ihm ein großes Glas Diet Cola ein. Martina kannte den Dienstplan so gut wie die Besatzungen; sie wusste immer, wann jemand weniger als zwölf Stunden bis zum nächsten Start hatte, und servierte ihm dann keinen Alkohol mehr. Wehe dem Flieger, der sich dagegen aufzulehnen versuchte!
Rinc sah sich in der Bar um, nahm die vertraute Atmosphäre in sich auf. Das Lokal hatte keine Klimaanlage und roch nach Staub und abgestandener Luft, aber es war trotzdem gemütlich - fast wie die alte Funkbude seines Vaters im Keller von Rincs Elternhaus.
Sein Blick fiel auf die Totentafel hinter der Theke. Dort hingen die Fotos aller Angehörigen der Staffel Aces High, die in den letzten 54 Jahren tödlich verunglückt waren. Rinc stellte fest, dass jemand die Fotogalerie um die Bilder seiner toten Kameraden ergänzt hatte. Tatsächlich handelte es sich um ein Gruppenfoto, das die gesamte Crew ihrer B-1B nach dem Gewinn der Fairchild Trophy vor dem Bomber zeigte...
... aber Rinc war aus der Aufnahme herausgeschnitten.
Er starrte das Foto wie gelähmt an. Eigentlich logisch, dass man ihn herausgeschnitten hatte - schließlich war er nicht tot -, aber alle übrigen noch lebenden Crewmitglieder waren nicht herausgeschnitten, und dass seine Staffelkameraden gerade dieses Foto an die Totentafel gehängt hatten, erfüllte ihn mit Unbehagen. Alle anderen Aufnahmen waren Einzelfotos, auch in Fällen, wo ganze Besatzungen tödlich verunglückt waren. Das war so, als sei ihm etwas Schlimmeres zugestoßen als der Tod - als sei er ausgeschlossen, geächtet. Die anderen hatten ihn bewusst eliminiert, als wollten sie ihn daran erinnern, dass er einen Absturz überlebt hatte, den er eigentlich nicht hätte überleben dürfen.
Rinc hatte sich noch keinen Platz gesucht, aber Martina nahm ihm die Wahl ab, indem sie sein Glas und eine Schale Salzbrezeln zu einer der Sitznischen hinübertrug. Sie wählte den Tisch, der am weitesten von der Tür des Hinterzimmers entfernt war. Er betrachtete erst die geschlossene Tür, dann Martina. Ihr Gesichtsausdruck beantwortete alle seine Fragen: Ja, im Hinterzimmer waren einige Angehörige der Staffel Aces High; ja, ihre Staffelchefin Rebecca
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