Lautloses Duell
Der Aufkleber verriet, dass er von der zentralen Aktenstelle der kalifornischen Jugendstrafanstalten kam; jemand musste ihn abgegeben haben, während sie im Bay View waren. Es war Gillettes Jugendstrafakte, die er am Abend zuvor angefordert hatte, nachdem der Hacker geflohen war. Er ließ den Umschlag auf dem Schreibtisch liegen und warf einen Blick auf die zugestaubte Wanduhr. Es war 22 Uhr 30. »Ich glaube, wir können jetzt alle eine kleine Pause gebrauchen«, sagte er.
Shelton hatte nichts von seiner Frau gesagt, aber Bishop spürte, dass er möglichst schnell wieder zu ihr nach Hause wollte. Mit dem Nicken in Richtung seines Kollegen verließ der stämmige Polizist den Raum. »Bis morgen früh, Frank.« Nolan schenkte er ein Lächeln, für Gillette hingegen hatte er weder ein Wort noch eine andere Abschiedsgeste übrig.
»Ich habe keine Lust, noch eine Nacht hier zu verbringen«, sagte Bishop zu Gillette. »Ich fahre nach Hause. Und Sie kommen mit.«
Bei diesen Worten fuhr Patricia Nolans Kopf zu dem Hacker herum. Auffällig beiläufig sagte sie: »Ich hab jede Menge Platz in meinem Hotel. Die Firma zahlt mir eine ganze Suite. Wenn Sie möchten, können Sie auch gerne dort übernachten. Die Mini-Bar ist nicht zu verachten.«
Doch der Detective lachte nur kurz auf und sagte: »Ich setzte meinen Job auch so schon leichtsinnig genug aufs Spiel. Es ist wohl besser, wenn er mit mir kommt. Sie wissen ja, als Gefangener untersteht er meiner Aufsicht.«
Nolan nahm die Niederlage gelassen hin. Bishop vermutete, dass sie sich Gillette als Objekt ihrer romantischen Interessen inzwischen allmählich abgeschminkt hatte. Sie nahm ihre Handtasche, kramte einen Stapel CDs und ihren Laptop zusammen und machte sich auf den Weg nach draußen.
Als Bishop und Gillette zur Tür gingen, fragte der Hacker: »Würde es Ihnen was ausmachen, unterwegs kurz anzuhalten?«
»Anhalten?«
»Ich würde gerne noch etwas mitnehmen«, sagte Gillette. »Ach ja, und wenn wir gerade davon reden: Würden Sie mir ein paar Dollar leihen?«
28 Kapitel 00011100
»Da wären wir«, sagte Bishop.
Sie hielten vor einem Haus im Ranch-Stil, nicht besonders groß, aber mitten auf einem von üppigem Grün umwucherten Grundstück gelegen, das nach ungefähr einem halben Morgen aussah, ungewöhnlich groß für diesen Teil des Silicon Valley.
Gillette erkundigte sich, in welcher Gemeinde sie hier seien, und Bishop antwortete: »Mountain View.« Dann fügte er hinzu: »Natürlich kann man von hier aus keinen einzigen Berg sehen. Was ich hier als Aussicht habe, ist der Dodge meines Nachbarn nebenan und, wenn es sehr klar ist, dieser große Hangar auf dem Flugplatz von Moffett.« Er zeigte nach Norden, auf eine Stelle irgendwo jenseits der Lichter, die sich auf der Schnellstraße 101 aneinander reihten.
Sie gingen über einen gewundenen, auffällig buckligen und rissigen Gehweg. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, ermahnte ihn Bishop. »Ich will das die ganze Zeit schon in Ordnung bringen. Aber dafür ist die San-Andreas-Spalte verantwortlich. Sie verläuft nur ungefähr fünf Kilometer entfernt von hier, etwa dort drüben. Ach ja: Putzen Sie sich bitte die Schuhe ab.«
Er sperrte die Haustür auf und schob den Hacker ins Haus.
Frank Bishops Frau Jennie war eine zierliche Frau Ende Dreißig. Ihr leicht rundliches Gesicht konnte man nicht unbedingt hübsch nennen, war aber trotzdem nicht reizlos. Im Gegensatz zu Bishop, der mit seinem gesprayten Haar, den Koteletten und den kurzärmligen weißen Hemden wie ein Zeitreisender aus den fünfziger Jahren wirkte, sah seine Frau eher wie eine moderne Hausfrau aus. Ihr langes Haar war zu einem französischen Zopf geflochten, sie trug Jeans und ein Designer-Arbeitshemd. Sie war schlank und sah durchaus sportlich aus, obwohl sie Gillette, der seit seiner Beurlaubung vom Gefängnis nur noch von gebräunten Kaliforniern umgeben war, sehr blass vorkam.
Sie schien nicht im Geringsten verärgert oder auch nur überrascht darüber, dass ihr Mann einen Sträfling mit nach Hause brachte, der auch noch bei ihnen übernachten sollte. Vermutlich hatte er sie telefonisch auf den Gast vorbereitet.
»Habt ihr schon was gegessen?«, erkundigte sie sich.
»Nein«, antwortete Bishop.
Gillette hingegen hielt die Papiertüte hoch, in der sich das befand, weswegen sie auf dem Weg von der CCU hierher Halt gemacht hatten. »Mir reicht das hier.«
Jennie nahm ihm die Tüte unerschrocken aus der Hand und warf einen Blick hinein.
Weitere Kostenlose Bücher