Lavinia & Tobais 03 - Skandal um Mitternacht
Fullerton sei betrunken gewesen. Zweifellos war er unsicher auf den Beinen. Es bedurfte also keines großen Kraftaufwands, um ihn über den Rand zu stoßen, nur genauer Planung.«
»Ich weiß, dass du aus irgendeinem Grund erst erklären musst, warum du überzeugt bist, dass es sich um Mord handelt«, sagte sie leise, » I ch habe aber noch nichts gesehen, was daraufhindeuten würde, dass es nicht ein Unfall gewesen sein könnte.«
»Und was ist mit dem großen, blonden Mädchen?«
Sie zögerte. »Neil fiel niemand ein, auf den meine Beschreibung gepasst hätte«, musste sie zugeben.
Er blieb stehen und sah sie an. Im Kerzenlicht wirkte sein Gesicht so finster, dass Neils Reaktion nur zu verständlich war. Tobias im Jagdfieber kann so erschreckend wirken, dass man davonlaufen möchte, dachte sie.
»Vermutlich war es eine der zu Gast weilenden Damen«, sagte er langsam. »Vielleicht in einem Kostüm, das sie auch auf dem heutigen Ball trug?«
Sie fasste den Eindruck zusammen, den ihr der rasche Blick auf Fullertons Begleiterin vermittelt hatte. »Ich glaube nicht, dass es ein Kostüm war, das jemand von Beaumonts Gästen auf einem Ball getragen hätte. Es war zu gewöhnlich, zu realistisch, wenn du weißt, was ich meine. Das Material war nicht so fein, dass es eine der heute anwesenden Damen gewählt hätte. Das Kleid war aus einem stumpfen, festen Stoff. Schuhe, Strümpfe und Schürze ähnelten jenen, wie sie die Stubenmädchen hier tragen.«
»Es war also kein Kostüm, sondern eine richtige Verkleidung«, sagte er nachdenklich.
»Tobias, es wird Zeit, dass du mir genau sagst, was hier vorgeht.«
Zunächst schwieg er und nahm seine Wanderung auf dem Dach wieder auf. Sie wusste, dass er nach anderen Spuren des Vorfalls suchte, der sich vor kurzem hier zugetragen hatte. Sie befürchtete, dass er damit die Gelegenheit nutzen würde, ihrer Frage auszuweichen.
In der äußersten Ecke angekommen, fing er jedoch zu sprechen an.
»Du weißt ja, dass ich während des Krieges auf Drängen meines Freundes Lord Crackenburne für die Krone etliche vertrauliche Aufträge übernahm.«
»Ja, ich weiß, dass du als Spion gearbeitet hast. Bitte, komm zur Sache.«
»Ich vermeide die Bezeichnung Spion, wenn von meiner früheren Tätigkeit die Rede ist.« Er bückte sich, um etwas im Staub näher zu betrachten. »Es hat so unappetitliche Facetten.«
»Mir ist klar, dass diese Profession nicht als passender Berufeines Gentleman gilt. Aber unter uns brauchen wir kein Blatt vor den Mund nehmen. Du warst Spion, und ich musste ein Geschäft eröffnen, um in Rom überleben zu können. Keiner von uns beiden verfügt über eine Vergangenheit, von der man möchte, dass sie in gehobenen gesellschaftlichen Kreisen bekannt wird. Doch das spielt zurzeit wohl kaum eine Rolle. Sprich weiter.«
Er richtete sich auf und starrte in die Nacht. »Verdammt, Lavinia, ich weiß nicht mal, wo ich beginnen soll.«
»Fang doch damit an, dass du mir erklärst, warum du den Ring von Fullertons Nachttisch genommen hast.«
»Ach, das ist dir also aufgefallen?« Tobias lächelte andeutungsweise. »Sehr aufmerksam. Du machst große Fortschritte im Erlernen der Fertigkeiten deines neuen Berufes. Ja, ich nahm den verdammten Ring.«
»Warum? Du bist kein Dieb.«
Er griff in die Tasche und zog den Ring heraus, um ihn kurz im Kerzenlicht zu betrachten. »Auch wenn ich eine Nase dafür hätte, hätte ich nicht nach diesem speziellen Schmuckstück gegriffen. Ich nahm ihn nur, weil ich sicher bin, dass er dort hingelegt wurde, damit ich ihn finde.«
Eis schmolz langsam an ihrem Rückgrat.
Sie trat zu ihm und betrachtete den Ring auf seiner Handfläche. Im flackernden Kerzenlicht konnte sie einen winzigen goldenen Sarg ausmachen. Tobias öffnete den Deckel mit der Fingerspitze. Ein grausiger kleiner Totenschädel starrte ihr aus einem Bett gekreuzter Gebeine entgegen.
»Ein Mementomori-Ring«, sagte sie und runzelte leicht die Stirn. »In längst vergangenen Zeiten waren sie sehr beliebt, obwohl mir unbegreiflich ist, warum jemand ständig an den Tod erinnert werden möchte.«
»Vor drei Jahren starben eine betagte Countess, eine reiche Witwe und zwei vermögende Gentlemen in einer Serie scheinbarer Unfälle und Selbstmorde. Eines Tages verwickelte ich meinen Freund Crackenburne zufällig in eine Diskussion über diese Ereignisse. Im Laufe der Debatte fiel mir auf, dass in jedem dieser Fälle jemand nachhaltig von den unerwarteten Todesfällen profitiert
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