Lawinenexpreß
Wargrave die Hand schüttelte. »Ich bin sicher, daß Sie es jetzt schaffen werden…«
»Vielen Dank, daß Sie uns heil durch Deutschland gebracht haben«, erwiderte Wargrave. »Das haben wir wahrscheinlich Ihren vierbeinigen Freunden zu verdanken…« Er zeigte auf die Schäferhunde, die jetzt mit ihren Hundeführern den Zug verließen. »Das war eine verdammt schlaue Idee.«
Zwischen Aachen und Brüssel Nord hatte der Speisewagen zum Frühstück geöffnet. Als einer der ersten erschien Waldo Hackmann im Speisewagen. Er trug noch immer seinen karierten Sportanzug und seine Hornbrille. Er wählte einen Eckplatz am hinteren Ende des Wagens, so daß er alle Speisegäste übersehen und auch den Eingang zur Küche im Auge behalten konnte. In seinem amerikanischen Akzent bestellte er sich ein üppiges Frühstück mit Schinken und Eiern, zündete sich eine Zigarre an und begann in einem Exemplar der Time zu lesen.
Im Schlafwagen am Ende des Zuges hatte Wargrave Elsa soeben vorgeschlagen, sie sollten im Speisewagen frühstücken. Julian Haller sagte, er wolle nur Kaffee, und bat sie, das Frühstück für Marenkow, Matt Leroy und Peter Necker bringen zu lassen. In der Küche werde ein belgischer Abwehrmann die Zubereitung der Speisen überwachen, damit kein Gift hineinpraktiziert werden könne.
Als sie den Speisewagen betreten hatten, wählten Wargrave und Elsa den Eckplatz an der Küche. Wenige Tische weiter saß Nicos Leonides Anna Markos gegenüber. Er tat so, als wäre sie Luft, als würden sie sich nicht kennen. »Mein Gott, was für ein herrliches Gefühl der Freiheit, mal wieder an einem Frühstückstisch zu sitzen«, murmelte Elsa und brach ein Brötchen. »Mit alltäglichen Mitreisenden zusammenzusitzen und die Landschaft vorübergleiten zu sehen.«
»So fabelhaft finde ich die Landschaft nun auch wieder nicht«, bemerkte Wargrave.
Sie fuhren gerade durch die Ausläufer der Ardennen. Es schneite noch immer heftig, und die Bäume waren dick mit Schnee bedeckt. Beim Frühstück nahm Elsa die anderen Reisenden im Speisewagen unter die Lupe; ob einer von ihnen Scharpinsky war? Am anderen Ende des Speisewagens hatte Waldo Hackmann Wargrave beobachtet, und es bereitete dem Russen ungeheure Befriedigung, den Engländer dort sitzen zu sehen. Er sah auf seine Uhr. 8 Uhr 15. In zwei Stunden würde der Engländer auf dem Grund der Maas liegen; später würde seine Leiche von der Rheinströmung ins Meer gespült werden. Bei diesem Gedanken schlürfte er seine nächste Tasse Kaffee mit doppeltem Behagen.
Er saß noch immer an seinem Tisch, als Wargrave und Elsa auf dem Weg zu ihrem Schlafwagen an ihm vorbeigingen. Es amüsierte Scharpinsky, daß der Engländer Waldo Hackmann, dem amerikanischen Kunsthändler aus Boston, Massachusetts, keines zweiten Blickes würdigte.
Um 7 Uhr 45 – als Wargrave und Elsa noch im Speisewagen frühstückten – verließ Rolf Geiger sein Amsterdamer Hauptquartier, um nach Süden, zur Maas, zu fahren. Er saß allein auf dem Rücksitz seines Mercedes 450 SEL. Er trug einen eleganten Mantel mit Pelzkragen und las die jüngste Ausgabe von Le Monde. Neben ihm lag ein Aktenkoffer. Am Steuer saß Erika Kern in einem schicken Chauffeusenkostüm und fuhr energisch und schwungvoll durch den frühmorgendlichen Verkehr. Auf dem Beifahrersitz hockte stumm und düster Joop Kist.
Rolf Geiger zog eine eindrucksvolle Schau ab; er hatte in der Vergangenheit schon mehrmals festgestellt, daß die Insassen von Streifenwagen ihn keines zweiten Blickes mehr würdigten, wenn die attraktive Erika Kern am Steuer saß und ihre Aufmerksamkeit ablenkte. Nach einer Viertelstunde hatten sie Amsterdam hinter sich gelassen und fuhren mit hoher Geschwindigkeit nach Süden. Erika trat jetzt kräftig aufs Gaspedal. Sie passierten ein Hinweisschild, und Geiger warf einen Blick darauf. Flughafen Schiphol.
Weniger als eine Stunde später befanden sie sich schon südlich von Dordrecht und in der Nähe der großen Maasbrücke. Wie in fast ganz Holland lag auch hier kaum Schnee – nur ein paar schmale Reste zwischen den Birken, die sie auf einem einsamen Streckenabschnitt passierten. In diesem Augenblick machte Joop Kist zum erstenmal den Mund auf.
»Halten Sie an. Ich muß mal pinkeln…«
»Um Himmels willen«, fauchte Erika. »Wir sind fast da.«
»Ich muß aber mal«, beharrte Kist. »Und zwar jetzt!«
Auf dem Rücksitz seufzte Geiger auf. »Halt an und laß ihn austreten«, sagte er. »Und beeilen Sie sich«,
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