Lawinenexpreß
Dunkelheit hin und her bewegte. Er blickte hinaus und erstarrte. Ein in der Stille und der Dunkelheit betäubend lauter Schuß krachte, dann ein zweiter. Die Schüsse waren aus so großer Nähe abgefeuert worden, daß Sarubin einen Augenblick lang glaubte, getroffen zu sein. Er sprang auf die Gleise hinunter und duckte sich. Rechts von ihm ging ein Mann mit einer Laterne, der jetzt das Licht löschte und hinter einer Reihe von Güterwagen verschwand. Sarubin, der sich noch immer duckte, wurde plötzlich vom Lichtstrahl einer starken Taschenlampe geblendet, der direkt auf sein Gesicht gerichtet war. Er wartete auf den dritten Schuß, der ihn töten würde.
»Oh… Sie sind’s, Sarubin…«
Die Stimme war die General Sergej Marenkows, des KGB-Chefs. »Kommen Sie mal her, sehen Sie sich das an«, fuhr Marenkow mit harter Stimme fort. Der noch immer benommene Sarubin ging langsam an den Waggons des Expreß entlang, bis er neben Marenkow stand, der sich über einen zusammengekrümmten Körper beugte. Marenkow hatte noch die Pistole in der Hand. Der KGB-Chef richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe auf das Gesicht des Mannes, den er erschossen hatte. »Es ist Starow vom GRU«, erklärte er mit harter Stimme. »Ein Saboteur – sehen Sie die Handgranate, die er in der Hand hält? Er wollte sie am Waggon anbringen.« Marenkow runzelte plötzlich die Stirn und sah Sarubin an. »Was hatten Sie denn hier zu suchen?«
»Ich war dabei, mir den Schlafwagen anzusehen…«
Der Mann mit der Laterne, den keiner von ihnen gesehen hatte, war jetzt mehr als dreihundert Meter entfernt. Er formulierte im Geist bereits den Bericht, der später zunächst Washington erreichte, bevor er an Julian Haller weitergeleitet wurde.
In dem fensterlosen Raum im zehnten Stock des Baton Rouge Building in Montreal hatte Wargrave schweigend zugehört, bis Haller seinen Bericht über den Zwischenfall auf dem Moskauer Verschiebebahnhof beendet hatte. »Es kann Zufall gewesen sein, daß Marenkow zur selben Zeit da war wie Sarubin…«
»Wenn mir nicht zwei weitere Berichte darüber vorlägen, daß unser Freund, General Marenkow, auch bei anderen Gelegenheiten auf diesem Bahnhof herumgeschnüffelt hat«, entgegnete der Amerikaner. »Es gibt eine zeitliche Grenze für das Überleben Angelos, und es könnte sein, daß seine Zeit bald abgelaufen ist.«
Das nächste Datum zum Abholen einer neuen Kassette war Mittwoch, der 3. Dezember. Es würde die zwölfte Kassette sein, die der Sparta-Ring übernahm. Am Dienstag, dem 2. Dezember, stieg Harry Wargrave im Hotel Schweizerhof in Zürich ab. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht ahnen, daß die Kassette die Nachricht von dem Großmanöver ›Unternehmen Donnerschlag‹ enthalten würde, das von Marschall Pratschko geleitet wurde; die Nachricht, die Präsident Moynihan dazu veranlassen sollte, über Nacht die riesige militärische Luftbrücke nach der Bundesrepublik Deutschland in Gang zu setzen.
Elsa Lang und Matt Leroy befanden sich bereits in Basel. Sie hatten sich wiederum in verschiedenen Hotels der Stadt einquartiert und hielten sich für das Abholen der Kassette am Morgen bereit. Auf Anweisung Wargraves übernachteten sie niemals zweimal im selben Hotel. Zudem hatte der Engländer soeben eine ernste Entscheidung getroffen: Er hatte sich entschlossen, Oberst Leon Springer von der schweizerischen Abwehr aufzusuchen. War es sein Instinkt gewesen, der ihn zu diesem Entschluß bewogen hatte? Oder hatte der Hinweis Hallers eine Rolle gespielt, mit dem Sparta-Ring könne es ohnehin bald zu Ende sein? Er war sich nicht sicher. Er wußte nur eins: Immer dann, wenn er in der Vergangenheit seinem Instinkt gefolgt war, hatte sich diese Entscheidung als richtig erwiesen.
Es war zwölf Uhr mittags, als er das kleine, überladene Büro Springers im zweiten Stock des Gebäudes am Ufer der Limmat betrat. Er hatte vom Hotel aus angerufen, und der Schweizer hatte ihn gebeten, sofort zu kommen. Springer erhob sich hinter dem Schreibtisch und ging auf den Engländer zu, um ihm die Hand zu reichen.
»Willkommen in der Schweiz, Harry. Seit unserer letzten Begegnung hat sich die internationale Spannung ein wenig gelegt«, bemerkte er in vorzüglichem Englisch.
Der dreiunddreißigjährige Oberst Leon Springer war das genaue Gegenteil des in Zeitungsartikeln so oft karikierten kalten Schweizers, dem Präzision über alles geht. Er war von schlankem Wuchs und hatte die Nase eines Habichts, lächelte
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