Lawinenexpreß
rief zum zweitenmal in einer Stunde den Bahnhof von Göschenen an. »Können Sie mir sagen, wann der Atlantik-Expreß in Göschenen erwartet wird?«
»Es hat eine Verspätung gegeben, Madame, aber der Expreß holt die Zeit wieder auf. Wir erwarten ihn für 20 Uhr 49…«
»Wenn ich also mit der Schollenen-Bahn um 20 Uhr 31 von Andermatt losfahre, müßte ich ihn rechtzeitig erreichen?«
»Aber gewiß, Madame – das ist der Anschlußzug.«
Um die Züricher Nummer zu erreichen, die sie im Kopf hatte, mußte Anna Markos länger warten. Das Mädchen am anderen Ende der Leitung wiederholte nur die Nummer. »Hier spricht Leros«, sagte Anna schnell, »ein Gespräch von Leros für Herrn Gehring. Es ist sehr dringend…«
»Einen Augenblick, bitte…«
General Traber, der in seinem Züricher Hauptquartier am Schreibtisch saß, erstarrte, als er hörte, wer ihn da verlangte. Es war das allererste Mal, daß Wargraves Agent in Andermatt ihn zu sprechen wünschte. »Stellen Sie ihn sofort durch«, erwiderte er. Er war noch überraschter, als er die Stimme einer Frau hörte, die ihn in akzentfreiem Deutsch ansprach. »Ja, ich bin Gehring«, sagte er sofort.
»Bitte nennen Sie Mr. Roose sofort – es ist sehr dringend – einen Namen. Sie haben mich verstanden – Mr. Roose? Der Name ist Robert Frey, Robert Frey. Wiederholen Sie ihn bitte. Ja, das ist richtig…«
Anna hatte aufgelegt, bevor Traber etwas erwidern konnte. Mr. Roose war Harry Wargrave. Den Hinweis auf Robert Frey begriff der Schweizer Abwehrchef überhaupt nicht; Frey war einer der geachtetsten Bürger der Schweiz. Traber verschwendete aber keine Zeit mit Spekulationen. Er drückte einen Knopf auf seiner Gegensprechanlage und bat, mit dem diensthabenden Offizier der Funkabteilung verbunden zu werden. Innerhalb von drei Minuten war die Nachricht auf dem Weg zum Funkabteil im Schlafwagen am Ende des Atlantik-Expreß.
Robert Frei war ein Perfektionist. Er war nie mit etwas zufrieden, und mit der Art und Weise, in der sein Sabotageteam jetzt arbeitete, war er sogar höchst unzufrieden – obwohl die Männer seit der Landung des Sikorsky-Hubschraubers am Rand des felsigen Hochplateaus auf dem Gipfel des Wasserhorns durchaus schnell gearbeitet hatten. Das Wegschaufeln der obersten Schneeschicht – um an die darunterliegende Eisschicht heranzukommen – hatte nicht viel Zeit in Anspruch genommen; der Ostwind, der Wargraves Hubschrauber beim Abheben vom Güterwagen des Atlantik-Expreß fast zur Erde geworfen hätte, hatte fast den gesamten Schnee vom Gipfel des Wasserhorns hinweggefegt und nur eine dünne Schicht zurückgelassen.
»Beeilt euch«, befahl Frey. »Bewegt eure Muskeln, verdammt noch mal – wir halten den Zeitplan nicht ein…«
»Das tun wir sehr wohl«, murmelte Emil Platow zu dem neben ihm schuftenden Mann und sah auf die Uhr.
»Wie war das, Emil?« verlangte Frey zu wissen. Seine hünenhafte Gestalt ragte drohend über dem gebückten Platow auf.
»Wir halten den Zeitplan ein«, fauchte der Schweizer gereizt.
»Diesen Teil können wir schnell erledigen. Den zweiten – nein. Benutzen Sie eigentlich nie dieses Knochengehäuse, das man Gehirn nennt?«
Und Frey hatte recht. In langen Abständen waren fünf Löcher freigeschaufelt worden. Jetzt begannen sie, die Bohrer einzusetzen, die von dem tragbaren Generator im Hubschrauber gespeist wurden. Kabel verliefen wie Rettungsleinen von Sikorsky-Hubschrauber zu den Bohrern, die die Männer benutzten. Sie durchbohrten die Eisschicht auf dem Gipfel und trieben Löcher in den Fels. Es war ein kalkuliertes Risiko – die Bohrer einzusetzen –, aber die ausgewählten Stellen waren weit genug von den steil abfallenden Rändern des Plateaus entfernt.
Frey hatte die Bohrstellen schon vor langer Zeit ausgesucht – und Frey wußte etwas, was er in seinen Berichten nach Davos unterschlug, wenn er von seinen Inspektionsflügen zur Untersuchung der Stabilität der Berghänge hoch oben über dem Gotthard zurückkehrte. Quer über das Wasserhorn verlief im Zickzack ein riesiger Felsriß, eine große Spalte, deren Tiefe Frey einmal mit seismologischen Geräten ausgelotet hatte. Der Chef der in Andermatt beheimateten kommunistischen Zelle wußte, daß die vermeintliche Unverwundbarkeit des Bergriesen über der Gotthardbahn eine Mär war.
Als er auf dem Gipfel stand und seine ungeheuerliche Sabotageaktion leitete, während der schneidende Wind ihm ins Gesicht blies, fühlte Robert Frey sich wie ein König. War
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