Lazyboy
das Bild deiner Herkunftsfamilie? Stehen alle am gefühlt richtigen Platz, so?«
Und ich merke, dass ich nicke, und immer noch hängt da etwas Nasses in meinen Augen, das den klaren Blick trübt. Ich nicke und schaue. In der Ecke vor der Tür ein abgewandter Lazyboy. Der Vater weit entfernt und mit sich selbst beschäftigt. Die Mutter irgendwo nach ihren Kindern in unterschiedliche Richtungen schauend. Die Schwester in der Mitte des Raumes mit hängenden Armen, im Zentrum, hilflos, alleine.
»Dann zeige ich dir mal, was die Lösung ist«, sagt Hilke. Und dann gruppiert sie die Platzhalter um, als wären Menschen Playmobilfiguren, zack, zack, zack. Und immer wieder fragt sie: »Was fühlst du? Ist diese Position besser so?« Bis alle Statthalter nicken. Und dann sagt sie meinem Platzhalter, dass er niederknien soll vor einer der Figuren, und sie legt ihm die Sätze in den Mund, von denen sie behauptet, dass sie Lösungssätze seien, demütige, klein machende Sätze, von denen sie verspricht, dass sie Linderung, dass sie Veränderung bringen. Und ich höre die Sätze auf meinem winzigen Playmobilstuhl und blicke auf meine Socken hinab und spüre, dass in mir nur wieder eine Tür aufgeht.
19
Ich sitze an meinem Küchentisch vor einem Dosenbier. Ich halte zärtliche Zwiesprache. Ich habe mich zum Nachdenken zurückgezogen. Wenn mich alle sowieso für verrückt halten, denke ich, dann brauche ich mich ja für niemanden verantwortlich zu fühlen. Wenn mich keiner so will, wie ich wirklich bin oder wie ich mir zumindest erscheine, dann kann ich mich ja auch von der nächstbesten Tür durch die Welt schubsen lassen. Dann brauche ich nicht mehr zu versuchen, reibungslos und schnell zurückzufinden. Dann brauche ich den Anschein des Funktionierens nicht mehr aufrechtzuerhalten. Das ist mein neues Konzept. Ab jetzt bin ich Forscher. Ich bin der ultimative Reisende. Ich reise mit den Türen. Ich lasse mich dauerhaft krankschreiben und laufe ziellos durch die Gegend, bis mich eine Tür verschluckt und an irgendeinem Ort ausspuckt. Dort bleibe ich genau so lange, bis die nächste Tür zuschlägt. Ich unternehme keinerlei Anstrengungen, willentlich zu reisen, weder in die eine noch in die andere Richtung. Ich versuche nicht, vor der Zeit nach Hause zurückzukehren, keine Bahn- oder Busreisen, keine Mietwagen oder hektischen Flüge, um irgendwo einigermaßen pünktlich zu erscheinen. Keine Ausreden, keine Lügen. Ich lasse mich treiben. Von Ort zu Ort, von Tür zu Tür. Ich bleibe, wohin die Türen mich schicken. Ich achte auf die Zeichen. Ich versuche, die Botschaft zu verstehen, die mir das Leben in Form von Türen eröffnet. Mal sehen, was passiert, wohin es mich verschlägt, was irgendwo auf mich wartet. Mal sehen, ob ich irgendwo dauerhaft lande. Welche glutäugige Frau wartet hinter welcher Tür auf mich? In Rio? Kalkutta? Worpswede, wo ich einen Laden für Künstlerbedarf eröffne? Mal sehen, wie sehr ich hier vermisst werde und von wem.
»Trotzphase reloaded, Lazyboy«, murmelt eine Stimme in mir, die mich ganz gut kennt, die mich eine Weile begleitet.
»Halt’s Maul«, antworte ich.
Ich mache mich daran, auf einem Blatt Papier meine Reise- und Grundausstattung zu konzipieren. Was werde ich alles benötigen? Ich proste meinem anderen Ich in der Küchenfensterscheibe zu. Ihr werdet euch noch alle wundern.
Ich stelle mir vor, wie ich zufällig durch eine Tür nach Japan gerate, wo ich die ersten Wochen in jener Art von Hotel übernachte, in dem man eine Röhre zugewiesen bekommt, weil es besonders preisgünstig ist. Tagsüber klappere ich die unterschiedlichen Tempel und heiligen Stätten ab, folge den Spuren mittelalterlicher Zurückgezogenheit und Spiritualität. In mir wird es still und stiller, ich beginne von innen zu leuchten, und die japanischen Mönche lächeln, wenn ich an ihnen vorüberschwebe.
Nach vier Wochen denke ich erstmals darüber nach, womit ich mein Geld verdienen soll. Soll ich mich im Supermarkt um die Ecke bewerben, der kälteste, weißeste, perfekteste Ort, den ich jemals zu Gesicht bekommen habe, um die Regale aufzufüllen? Oder wird das schon vollautomatisch erledigt? Ich beginne mich zu fragen, was ich überhaupt kann. Was ist meine Befähigung? Und was meine Berufung? Soll ich wieder beginnen, Artikel für die üblichen Magazine zu schreiben, via Internet? Einen Blog über mein Leben in Japan?
Nach fünf Wochen fällt mir auf, dass ich seit Tagen kein Wort mit einem lebendigen Wesen
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