Lazyboy
Schulter.
»Als aber der Bürgermeister unserer Seite auf den Tag genau ein Jahr nach der Zeremonie feierlich die Tür in der Wand öffnete, war nichts zu sehen als ein milchig weißes Nichts. Kein Laut war zu hören, keine Antwort auf die fragenden Rufe. Es war, als wäre die andere Seite in dichtem Nebel verschwunden. Doch jener Bürgermeister war ein mutiger Mann, und so ließ er es sich nicht nehmen, trotzdem in den Nebel einzutauchen und persönlich das Schicksal der geteilten Stadt zu erforschen.«
»Und?«, frage ich.
»Wir haben ihn nie wieder zu Gesicht bekommen. Er trat durch die Tür und war verschwunden. Er ging in den Nebel und blieb für immer unauffindbar. Natürlich machten wir sofort die von der anderen Seite für das Verschwinden verantwortlich. Wir glaubten, sie hätten eine Falle konstruiert. Aber schon bald verließ uns die Sicherheit. Vielleicht war etwas schiefgelaufen beim Bau der Tür? Vielleicht vermissten zeitgleich die anderen ebenfalls ihren Bürgermeister? Wir würden es nur herausbekommen, dachten wir, wenn wir versuchten, dem Geheimnis weiterhin auf den Leib zu rücken. Wir mussten einen neuen Bürgermeister bestimmen. Und es wurde zur Sitte, einmal im Jahr an jenem Tag einen Mann, einen jungen Mann zumeist, durch die Tür in das Nichts zu schicken, in der Hoffnung, dass ihm die Rückkehr gelinge und er uns Kunde vom Schicksal seiner Gefährten und des anderen Teils der Stadt bringen werde. Aber bislang ist noch keinem die Rückkehr gelungen. Natürlich haben wir es mit allen möglichen Experimenten versucht, Menschen an Seile gebunden zum Beispiel, es hat immer wieder Mutige gegeben. Letztlich aber blieben all diese Forscher verschwunden. Seit langer, langer Zeit feiern wir nun schon einmal im Jahr dieses Fest, bei dem die Tür geöffnet wird und einer den Gang in das Ungewisse antritt, ein Beeker opfert sich und ist fortan verschwunden.«
Der Lehrer seufzt und streicht sich durch die Haare.
»Und seither steht also in Beek die Zeit still. Seither wurde niemand geboren und niemand ist verstorben. Erst alterten wir lediglich langsamer, aber irgendwann schien es allen, als sei der Fluss des Lebens zum Stillstand gekommen. Niemand war mehr in der Lage, die Stadt zu verlassen. Und kein Besucher von außen hat uns seither erreicht. Die Prophezeiung verheißt, dass von nun an nur noch ein Mann von der einen und eine Frau von der anderen Seite ein Kind zeugen können. Und gerade deshalb warten wir auf den Mittler. Niemand weiß bis heute, was mit der Tür geschah, warum sie nicht ihre Funktion erfüllt wie vorgesehen. Manch Tischler hat sich die Tür beschaut und konnte keine Auffälligkeit entdecken. Und niemand weiß auch, wie schließlich die Prophezeiung vom Mittler entstand, wann zum ersten Mal die Erzählung umging, ein Mensch von außen werde kommen und die Dinge erneut in Fluss bringen. Irgendwann wurde die Geschichte aufgeschrieben, und die Verschriftlichung wurde aufgefunden, hier im Schulgebäude war es. Es heißt, der Mittler könne durch die Tür treten. Er werde von einem Teil Beeks in den anderen hinübertreten und eine Mittlerrolle übernehmen. Er werde die Tür für uns öffnen und uns dadurch das Leben, die Freiheit und den Frieden bringen. An seiner Hand könnten wir endlich durch die Tür treten.«
Der Beeker und die Beekerin sehen mich an.
»Darf ich mal etwas fragen?«, sage ich.
»Natürlich.«
»Das Ganze kommt mir etwas unlogisch vor.«
»Wie?«, sagt der Lehrer unwirsch.
»Wieso brauchen Sie denn eine schriftliche Prophezeiung, um sich an die angeblichen Ereignisse zu erinnern, wenn niemand gealtert ist? Sie müssten demnach doch alle noch da sein, die sich damals am Bau der Wand beteiligten, das müssen Sie doch keinem erklären und erzählen und vermitteln. Sie sind doch alle Augenzeugen hier, oder nicht? Sie erzählen das so, als wäre das alles schon Jahrtausende her und stünde nur in alten, verstaubten und vergilbten Schriftrollen, dabei waren Sie doch persönlich dabei, wenn ich Sie richtig verstehe. Irgendwie komme ich da nicht mit, irgendwie vermisse ich da die Logik, mit Verlaub. Und wenn Sie diese Wand gebaut haben, dann reißen Sie sie doch einfach wieder ab.«
»Hören Sie«, sagt der Lehrer, »ich fürchte, Sie verstehen das überhaupt nicht. Seither ist tatsächlich unendlich viel Zeit vergangen, unendlich lange schon sind wir hier und leben unser Leben, tagein, tagaus. Wir versuchen, unsere gute Laune zu behalten. Wir sind noch dieselben,
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