Lazyboy
Kindergemälde, zerrt Bücher aus Regalen und katapultiert sie gegen Wände, zerfleddert ausgestopfte Vögel, tritt gegen Tische und Stühle und lässt sie wie waagerechten Regen oder Hagel durch die Luft sirren. Er tobt sich aus wie eine elektrostatische Entladung, als gäbe es kein Morgen, als wäre dieser Raum eine dem Untergang geweihte Landschaft, dem haltlosen Wüten des Roboters der Apokalypse ausgeliefert. Irgendwann allerdings steht kein Brennstoff Atem mehr zur Verfügung.
Etwas sinkt erschöpft auf dem Linoleumfußboden in sich zusammen, lehnt sich gegen ein geplündertes Regal, tuckert noch eine Weile vor sich hin. Von draußen vor der Tür ist nichts zu vernehmen.
Ich hebe ein Buch auf, das vor mir auf dem Boden liegt. Ein Band mit Beeker Geschichten . Ich schlage sie in der Mitte auf. Ich lese die Geschichte vom Bäcker Loki, der den kleinen Bach, die Beek, aufstaute, um seine Mühle mit mehr Wasser zu versorgen, ohne den Magistrat um Erlaubnis zu ersuchen. Ich lese, dass auf diese Weise nicht nur der See entstand, der die Stadt in zwei Uferhälften teilte und so die Trennung durch die Wand vorwegnahm, sondern dass auch das alte Waisenhaus überflutet wurde, das in einer Mulde gestanden hatte, 42 tote Waisenkinder.
Ich kippe zur Seite weg, das Buch fällt aus meinen Händen auf den Boden. Ich rolle mich auf dem Linoleum zusammen.
Als ich erwache, ist es Nacht. Ich betrachte im Liegen die drei hellen Rechtecke in einem schwarzen Universum, von denen ich weiß, dass es die Fenster des Klassenzimmers sind. Ich brauche einen Plan, denke ich. Wenn ich erst einmal aus diesem Klassenzimmer heraus bin, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ich komme irgendwie auf die große Lösung, überwinde Wand und Teilung, alle sind zufrieden und ich darf gehen. Oder ich setze mich so schnell es geht ab. Vielleicht gibt es ja mehr Ein- oder Ausgänge als nur den Kleiderschrank. Warum sollte sich der Zugang aus meiner Welt in die Stadt auf Danielas Kleiderschrank beschränken? Vielleicht verfügt jede Seite über einen separaten Zugang in die wirkliche Welt. Vielleicht ist es auf der anderen Seite der Kleiderschrank der Ärztin Monika, würde doch Sinn ergeben irgendwie, Doppelgängerinnenlogik.
Als es hell wird, durchstöbere ich ein paar herausgerissene Kommodenschubladen, bis ich Malpapier und Wachsmalstifte gefunden habe. Ich lege mich bäuchlings auf den Boden und fertige mühsam eine Skizze von Beek an, so wie ich mir die Stadt bislang zusammengereimt habe und wie ich sie von der gepixelten Landkarte erinnere.
Irgendwann, ich bin gerade in meine Skizzen vertieft, klopft es gegen die Fensterscheibe. Verwirrt blicke ich auf. Draußen steht Daphne. Sie blickt sich nach rechts und links um, dann winkt sie mich mit gehetztem Blick zu sich.
»Mach das Fenster auf«, lese ich von ihren Lippen ab. Ich schleiche zum Fenster und öffne es leise.
»Sie bewachen die Fenster nicht«, sagt Daphne und strahlt mich an.
»Wirklich?«
»Bescheuert, oder? Sie haben noch gar nicht gemerkt, dass ich weg bin.«
»Oh«, sage ich. »Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, die Fenster zu kontrollieren. Woher wusstest du, dass sie mich im Schulhaus verstecken?«
»Vor der Tür steht ein Typ mit Baseballschläger und dieser Lehrer geht mit rotem Gesicht auf und ab. Komm schnell, wir müssen abhauen.«
Sie wirft einen anerkennenden Blick ins Klassenzimmer. »Du hast aber ganze Arbeit geleistet.«
Ich klettere aus dem Fenster.
»Wie konntest du denn entkommen?«
»Pff«, macht sie, »das sind hier wirklich keine Profis. Da bin ich anderes gewohnt.«
Wir waten mit erhobenen Armen durch eine Fläche mit hohen Brennnesseln. In einem Gebüsch mit feuerroten Blättern nehmen wir Platz.
»Pass auf«, sagt Daphne, »sie bewachen den Durchgang durch die Wand, die Tür auf die andere Seite, der Weg ist uns also abgeschnitten. Außerdem steht das Haus von deiner Tussi unter Bewachung, was man sich ja hat denken können. So wie ich es sehe, müssen wir herausfinden, ob es noch weitere Wege hinaus aus Beek gibt.«
»Genau«, sage ich, »so weit bin ich auch schon gekommen.«
»Wir sollten uns wieder trennen«, sagt Daphne, »und jeder auf eigene Faust suchen. Bei Sonnenuntergang treffen wir uns wieder.«
Ich sage: »Normalerweise käme an dieser Stelle der unsichtbar machende Mantel oder Umhang zum Einsatz, den wir von einem guten Zauberer oder einer Fee oder einem alten König geschenkt bekommen hätten. Ich würde ihn über dich
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