Lazyboy
breiten und dann könnten wir unentdeckt durch die feindlichen Linien spazieren. Das wäre hilfreich jetzt.«
»Häh?«
»Fantasy«, sage ich.
Wir blicken beide die Ralph-Lauren -Daunenjacke an, die ich aus nostalgischen Gründen immer noch trage.
»Das können wir vergessen«, sagt sie.
»Dann muss es eben so gehen«, sage ich.
»Ist eh nicht so mein Fall«, sagt sie. »Fantasy, das ist mehr so ein Jungs-Ding. Ich stehe mehr auf Pony-Literatur, Freundinnen und Internate, du weißt schon. Wir treffen uns hier wieder, wenn es dunkel geworden ist, ja?«
Wir nicken uns grimmig zu, dann schleichen wir in unterschiedliche Richtungen.
10
Ich schleiche an einer 200 Meter langen Backsteinwand entlang. Ich klettere auf einen 58 Meter hohen, unbewachten Backsteinturm, von dem aus ich diese Seite der Stadt und das Umland und die Wand überblicken kann, über die Wand hinweg kann ich trotzdem nicht gucken. Ich klettere in die Kanalisation Beeks hinab, krieche gebückt durch Abwassergräben. Als ich meinen Kopf endlich wieder blinzelnd ins Tageslicht hebe, muss ich feststellen, dass ich immer noch auf derselben Seite bin und dass dieser Ausgang aus der Beeker Unterwelt bewacht wird.
Ein etwa 12-jähriger Junge sieht mich mit flackernden Blicken an, er weicht ein paar Schritte zurück. Ich gucke sein T-Shirt an, auf dem in fließender lindgrüner Schrift Arabake steht, was immer das bedeuten mag. Die Bedeutung des Pfiffs, den er einer umgehängten Trillerpfeife entlockt, leuchtet mir ohne Verzögerung ein. Ich schwinge mich aus dem Loch im Boden und verschwinde um die nächste Häuserecke, während er wie besessen in seine Trillerpfeife bläst. Ich höre das Getrampel schwerer Schritte auf dem Pflaster, während ich auf ein rettendes Gebüsch hoffe. Ich renne. Backsteinwände fliegen vorbei.
Eine geöffnete Haustür hält mich auf. Eine alte Dame lehnt mit verschränkten Armen darin.
»Hier herein, junger Mann!«, ruft sie.
Sie zieht mich zu sich und klopft mir auf die Schulter. Sie sagt: »Ich bin von Anfang an der Meinung gewesen, dass man Sie mal in Ruhe Ihrer Aufgabe nachgehen lassen sollte, dass ein wenig Vertrauen angezeigt wäre, anstatt Ihnen immerzu neue Anweisungen zu geben und Ihnen Knüppel zwischen die Beine zu werfen.«
»Ja«, sage ich atemlos, »danke.« Sie schiebt mich durch einen dunklen Flur, der nach trockenem Holz riecht. In der guten Stube hält sie mir eine Schale lauwarmer Milch hin, als wäre ich ein Kätzchen, aber Durst habe ich tatsächlich und ich schlabbere dankbar. Dann blicke ich sie an, grauer Rock, braun-beige gestreifte Bluse, ein Medaillon um den Hals, feste, braune Schuhe, ein silberner Haarknoten. Und sie blickt mich an. Mein Äußeres muss unter dem Ausflug in die Kanalisation gelitten haben. Ich rieche. Ich bin schmutzig. Aber ihr scheint es nichts auszumachen, sie lächelt freundlich.
»Ich organisiere den Beeker Widerstand«, sagt sie lächelnd.
»Oh«, sage ich.
»Mein Mann und ich kämpften schon lange im Verborgenen gegen das Regime, nun bin ich an der Spitze der Bewegung, seit er verschwunden ist.«
»Oh«, sage ich noch einmal und blicke mich in der Stube um, in die sie mich geschoben hat. Ein Kachelofen, ein Wandteppich. Neben einem schönen Sekretär aus Nussholz steht ein ausgestopfter Hund, ein Labrador, seelenlos glitzern zwei stummschwarze Augen zu mir hin. Sie hat mich auf ein leicht muffig riechendes Sofa geschoben.
»Schönes Tier, nicht wahr?«, erkundigt sie sich, als sie meinen Blick bemerkt.
»Hh«, mache ich und nicke mechanisch.
»Er hieß Rüdiger, 12 Jahre hat er bei uns gelebt, dann konnte ich mich nicht von ihm trennen.«
»Sie haben ihn ausstopfen lassen«, bemerke ich, geistreich wie eh und je.
»Genau«, sagt sie mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. »Und im Schlafzimmer oben steht mein verstorbener Mann, wollen Sie auf den auch mal einen Blick werfen?«
Sie fixiert mich eine Weile scharf, in ihrem Antlitz spiegeln sich meine stupide weit geöffneten Augen, dann wiehert sie plötzlich los, etwas unziemlich für eine ältere Dame, finde ich.
»Ein Scherz«, wiehert sie. »Sie haben mir geglaubt, nicht wahr? Ein Scherz!«
Sie kichert vor sich hin, und ich bekomme tatsächlich das Bild von diesem ausgestopften Herrn mit den weißgrauen Haaren in seinem besten Anzug nicht aus dem Sinn, der da oben neben ihrem Bett nächtliche Wacht hält.
»Was haben Sie jetzt vor?«, fragt sie, als sie sich beruhigt hat.
»Ich schätze, ich muss
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