Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
Was wäre passiert, wenn sie als verkrüppelte Künstlerin überlebt hätte? Sie wäre schwermütig und schließlich depressiv geworden. Bald hätte sie ihn, das eigentliche Ziel des Anschlags, für ihr Leiden verantwortlich gemacht. Am Ende hätte sie ihn verflucht. Leah wusste, dass es so kommen würde. Mit ihrem Weggang wollte sie ihre Liebe für die Ewigkeit erhalten. Sie hatten zwanzig wunderbare Jahre miteinander erlebt, die ihn für den Rest seines Lebens tragen würden.
»Danke, Leah!«
Thal sprach es deutlich aus wie eine Art reinigendes Gebet. Er setzte sich erneut auf die Werkbank, zog die Beine in den festen Sitz und versammelt seine Gedanken. Er konzentrierte sich auf seinen Atem, auf die Stelle, wo er beim Ausatmen die Haut erreichte. So, wie er es von seinem Meister gelernt hatte.
Thal meditierte. Das erste Mal seit einhundertsechs Tagen.
Eine Stunde später praktizierte er die einst in Thailand gelernte Rücknahme der Kontemplation, spannte für ein paar Sekunden alle Muskeln an und löste die Fokussierung seines Geistes. Er fühlte sich auf besondere Weise erfrischt. Wie ihm das gefehlt hatte! Er wollte sich gerade den Gemälden zuwenden, als er ein seltsames Summen aus seiner Manteltasche hörte. Sein Handy vibrierte. Er hatte nach der Dienstbesprechung vergessen, den Klingelton einzuschalten. Auf dem Display stand die Meldung: »2 Anrufe in Abwesenheit«. Die Handynummer des jetzigen Anrufers kannte er nicht.
»Thal.« Seine Stimme war belegt.
»Hallo Chef, endlich erwischen wir Sie.«
Stephanie Bohlmann klang aufgekratzt.
»Man hat eine Frau gefunden. Bewusstlos und nackt. In der Citykirche.«
Seit wann nannte man Kirchen in Denglisch?
»Wo?«
»In der Dreifaltigkeitskirche.«
»Wo ist die Frau jetzt?«
»In der Klinik. Grendel und sein Team sind bereits in der Kirche.«
»Wer hat die Frau gefunden?«
»Ein Kirchgänger, der abendliche Erbauung suchte. Sollen wir ihn dabehalten, bis Sie kommen?«
»Ja. Und schicken Sie mir einen Streifenwagen.«
Thal gab Bohlmann die Adresse des Ateliers und fotografierte in Ruhe die letzten vier Bilder.
***
»Also, ich wusste ja gar nicht, wie mir geschah!« Der Siebzigjährige stand noch unter Schock. Er saß auf der Bank des Einsatzwagens und knetete einen grauen Filzhut in seinen Händen. Dem Aussehen der Kopfbedeckung nach tat er das schon geraume Zeit.
»Das ist Hermann Wollhuber«, sagte Stephanie Bohlmann, die hinter Thal in den Wagen kletterte.
»Er hat das Opfer gefunden.«
Thal nickte dem Zeugen aufmunternd zu.
»Erzählen Sie von Anfang an. Wann kamen Sie in die Kirche?«
»Na ja, es wird so gegen Viertel nach sechs gewesen sein. Wissen Sie, ich gehe am Nachmittag gerne durch die Stadt. Meine Frau ist vor einem Jahr gestorben, und die Kinder haben ihr eigenes Leben. Wenn ich mich einsam fühle, laufe ich einfach so durch die Straßen. Es geht mir besser, wenn ich andere Leute sehe. Sie sind noch jung, Sie werden das nicht verstehen.«
Wenn du wüsstest, wie gut ich dich verstehe, dachte Thal. Fast bedauerte er, dass jetzt keine Zeit für eine längere Unterhaltung war.
»Gut, Sie kamen also so gegen Viertel nach sechs in die Kirche. Was sahen Sie da?«
»Erst mal gar nichts. Wissen Sie, im Winter ist um diese Zeit nie jemand in der Kirche. Im Sommer, da kommen manchmal Touristen, weil der Altar in der Kirche, der ist von dem Kaspar Weber. Das steht in den Reiseführern.«
»Irgendwann ist Ihnen dann doch etwas aufgefallen, oder?«
»Erst habe ich eine Kerze für meine Frau angezündet, das mache ich immer so. Dann bin ich nach vorne gegangen, und da sah ich sie.«
Der Mann schluckte und schwieg. Thal musste ihn ermuntern, weiterzusprechen.
»Was sahen Sie genau?«
»Na, die Frau eben. Nackt lag sie da auf den Stufen vor dem Altar. Nackt bis auf diese Strümpfe. Solche unanständigen, wissen Sie. Und verdreht war sie. Ich dachte: Die ist hin.«
»Sind Sie zu ihr gegangen? Haben Sie sie angefasst?«
Der Zeuge schüttelte entsetzt den Kopf.
»Nein. Rausgerannt bin ich und habe einen Mann angesprochen. Er soll die Polizei rufen, habe ich ihm gesagt. Der hat gleich sein Handy gezogen. Ich habe keins, obwohl mein Sohn sagt, ich sollte mir eins kaufen. Für den Notfall. Als ob man selbst den Arzt rufen kann, wenn das letzte Stündlein schlägt.«
Stephanie Bohlmann mischte sich ein.
»Die Personalien des Anrufers haben wir. Er konnte nicht auf Sie warten, Chef. Der Mann ist Cellist in der
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