Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
war für einen Moment sprachlos. Statt des erwarteten Häufchen Elends saß eine strahlend schöne Frau aufrecht im Krankenbett. Sie war gerade damit fertig, sich zu schminken, und legte ein Plastikdöschen und einen langen Pinsel auf den Nachttisch.
»Na endlich. Ich dachte schon, man hätte mich vergessen.«
Thal überließ wie bei Claudia Pech die Gesprächsführung zunächst Bettina und betrachtete derweil das Opfer genauer. Katharina Scheffer, genannt Catrin, war sechsundzwanzig Jahre und attraktiv. In ihrem weißen Nachthemd, die nach vorne gekämmten, langen schwarzen Haare dicht neben dem Kopf auf dem ebenfalls weißen Bettbezug, erschien sie Thal wie das Idealbild von Schneewittchen. Er verkniff sich ein Lächeln und konzentrierte sich auf ihre Erzählung.
Catrin Scheffer hatte vor drei Monaten ihr Studium beendet. Zurzeit arbeitete sie als Praktikantin bei der Werbeagentur Mensing & Partner. Nicht die schlechteste Adresse, wie Thal wusste. Hans-Peter Mensing war regelmäßiger Gast auf Leahs Atelierfesten. Bei einer Begrüßungsrede stellte sie ihn als einen der »kreativsten Köpfe der Stadt« vor. Als Thal sie später am Abend fragte, ob das für den Inhaber einer Werbeagentur nicht ein bisschen dick aufgetragen wäre, meinte sie:
»Na ja, auf jeden Fall verdient er Geld wie Heu, und dumm scheint er mir nicht zu sein, schließlich hat er zwei Bilder von mir gekauft.«
Vom Hergang des Nachmittags wusste Catrin Scheffer nicht mehr viel. Sie hatte im Café Pano ihren »Feierabend-Latte« getrunken. Anschließend wollte sie noch durch die Geschäfte im Lago bummeln und verließ das Café kurz nach vier. Irgendwo auf der Siegesmundstraße sei ihr übel geworden, und sie sei erst im Krankenwagen zu sich gekommen.
Während ihrer Erzählung würdigte sie Bettina Berg keines Blickes, sondern sah nur Alexander Thal an. Deshalb übernahm er das Gespräch.
»Ist Ihnen im Café irgendetwas aufgefallen? Hat sie jemand angestarrt oder angerempelt?«
»Ach, wissen Sie, Herr Kommissar. Wenn man sich nicht so langweilig oder abscheulich kleidet wie neunzig Prozent der durchschnittlichen Konstanzer Frauenwelt, wird man ständig angestarrt. Aber angerempelt? Nein, daran kann ich mich nicht erinnern.«
Catrin Scheffer lächelte den Kommissar direkt an. Als säßen wir im Café und unterhielten uns über den neuesten Kinofilm, dachte er. Nichts deutete darauf hin, dass sein Gegenüber noch vor wenigen Stunden Opfer eines brutalen Überfalls gewesen war. Thal versuchte ebenfalls, charmant zu lächeln, als er seine nächste Frage stellte.
»Sie werden sich wundern, und ich entschuldige mich vorab für die Direktheit der Frage, aber ich muss sie stellen. Hatten Sie in der letzten Zeit intensive Sexualkontakte?«
Täuschte er sich, oder errötete Catrin Scheffer leicht. Ihre Antwort kam prompt und ohne Zögern:
»Wenn es doch nur so wäre. Nein, Herr Kommissar. Ich bin ein einsamer Single.«
Ohne den Blick von Thal zu wenden, seufzte sie deutlich hörbar. Das Gespräch bekam den Charakter eines Flirts. Thal beschloss, sie mit der Situation zu konfrontieren, und überreichte ihr eines der Polaroids. Catrin Scheffer starrte es an, ohne ihr Lächeln zu verlieren.
»Eigentlich ein ganz hübsches Foto.«
Sie sprach leise. Thal registrierte ein kaum merkliches Zittern ihrer Unterlippe. Auch ihre Stimme war nicht mehr so fest, als sie weitersprach.
»Die Strümpfe gehören mir aber nicht. Zu meinem hellen Rock würde ich doch niemals schwarze tragen.«
Als sie Thal das Foto zurückgab, lächelte sie zwar noch, gleichzeitig blitzte aber eine Träne in ihrem rechten Auge, die bald ihr makelloses Make-up zerstören würde.
***
Es war nach Mitternacht, als Stephanie Bohlmann die telefonisch bestellten Pizzas vom Empfang des Polizeipräsidiums holte und auf den Besprechungstisch in Thals Büro stellte. Als ihm der Geruch des Mozzarella in die Nase stieg, merkte Thal, wie hungrig er war. Auch Stephanie Bohlmann und Bettina Berg begannen sofort zu essen. Sie schwiegen für ein paar Minuten. Es war ohnehin alles besprochen, und sie waren sich einig, dass die Handlungsweise des Täters bedrohlich eskalierte. Keiner der Kommissare, auch nicht Klaus Wagner, der vor einer halben Stunde nach Hause gegangen war, zweifelte daran, dass Catrin Scheffer vom mysteriösen Fotografen, wie sie den Täter inzwischen nur noch nannten, betäubt, in die Dreifaltigkeitskirche geschleppt, entkleidet und anschließend mit
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