Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
bedeutenden Ausstellung gefeiert würde. Vielleicht könnte er dann Abschied nehmen.
Überhaupt schien ihm Abschied das Gebot der Stunde. Musste er sich nicht von seinem alten Leben lösen? Sollte er nicht zum Präsidenten gehen und ihn um vorzeitige Entlassung aus dem Dienst bitten? Selbst wenn seine Beamtenpension drastisch gekürzt würde, in Thailand oder auf Bali wäre er damit noch ein reicher Mann. Was brauchte er mehr als eine einfache Strandhütte, eine Hängematte und ein paar gute Bücher? Als Thal sich das kleine Häuschen am langen, weißen Strand von Prachuap Khiri Khan vorstellte, in dem er mit Leah vier der glücklichsten Wochen seines Lebens verbracht hatte, war er sich nicht mehr sicher, ob er sich nicht auch von dieser Vorstellung lösen musste. Ohne Leah schien ihm ein solches Leben nicht erstrebenswert. Einmal Bulle, immer Bulle! Urplötzlich drängte sich dieser Gedanke in den Vordergrund, aber er verdrängte ihn sofort. Seit Jahren war es sein Lebensplan, mit sechzig die Arbeit an den Nagel zu hängen. Die Welt war groß und bunt! Was hatte er davon schon gesehen?
»Noch ein Jahr«, hatte Leah vor ein paar Monaten gesagt, »dann fangen wir unser Leben ganz neu an!«
Unser Leben! Das gab es nicht mehr. Es gab nur noch sein Leben. In dieser Sekunde begriff Thal, was Einsamkeit bedeutet. Er war nicht allein, um ihn herum gab es eine Welt voller Menschen, mit denen er reden, essen, trinken, vielleicht sogar Sex haben konnte. Aber es gab keinen Menschen, mit dem er seine Zukunft über Alltagsbanalitäten und Berufserfordernisse hinaus plante. Es gab keinen Menschen, der sich darauf freute, mit ihm alt zu werden.
Eine tiefe Traurigkeit hüllte ihn ein. Bisher hatte er um Leah getrauert, hatte das Schicksal verflucht, dass sie statt seiner in den Tod gerissen hatte. Sie war erst Mitte vierzig, sprühte vor Tatendrang. Sie war intelligent, charmant, attraktiv, hinreißend. Sie ließ einen glauben, dass es nicht nur Verderben und Scheußlichkeiten gab, sondern dass das Gute und Schöne eine Chance hatte. Eine Welt, die einen solchen Menschen sterben ließ, war keine gute Welt.
Auf diese Art und Weise hatte er anfangs getrauert. Erfüllt von Verbitterung und Wut. Später, nach einigen Wochen, kam Selbstmitleid dazu. Leah konnte ihn nicht geliebt haben, sonst wäre sie nicht gegangen. Jetzt war er nicht mehr wütend auf sich, sondern auf Leah.
Er würde den Augenblick nie vergessen, als er die Intensivstation betrat. Das Bild seiner schwer verletzten, durch Apparate am Leben gehaltenen Frau war in sein Gedächtnis eingebrannt. Als sie ihn sah, lächelte sie. Wegen des Tubus, durch den sie beatmet wurde, konnte sie nicht sprechen, aber ihr Blick sagte ihm alles. Er erzählte die Geschichte ihrer Liebe vom Anfang bis jetzt. Sie bedankte sich, ohne dass er wusste, wofür. Er hatte einen Kloß im Hals, und es fielen ihm nur die typischen Sprüche ein, die tausendfach an Betten Todkranker gesagt werden.
»Du bist stark, Leah. Du schaffst es.«
Sie lächelte ihn an, und obwohl es sie unvorstellbar anstrengen musste, hob sie beide Arme einen Zentimeter an. Thal verstand die Geste sofort. Sie hatte keine Hände mehr. Zwar waren beide Arme verbunden, aber jeder konnte sehen, dass am Ende nicht ihre feingliedrigen, langen Finger waren, sondern unförmige Stümpfe.
»Du musst kämpfen, Leah! Bitte! Für uns!«
Leah lächelte ihn weiter an. Dann schloss sie ihre Augen. Sie öffnete sie nicht mehr.
Heute, über drei Monate später und angesichts von Dutzenden leuchtenden Gemälden voller Lebensfreude in dieser kalten Halle, verstand Thal. Leah hatte ihn nicht verlassen, weil ihre Liebe zu schwach war - im Gegenteil. Sie wusste, dass sie die Liebe verlieren würde, wenn sie ihre Gefühle nicht mehr in Farben und Formen ausdrücken konnte. Sie hatte ihn mit jeder Faser ihres Körpers und ihres Geistes lieben können, weil sie durch ihre Kunst ein vollständiger, heiler Mensch war. Würde diese Ganzheit zerbrechen, wäre es das Ende der Liebe.
In Thals Kopf formte sich ein Gedanke, der ihn zunächst erschreckte, eher er ihn beruhigte. Er musste Leah loslassen. Nicht vergessen, niemals! Sie würde ihn in seinen Erinnerungen bis zu seinem eigenen Tod begleiten. Sie hatte sein Leben total auf den Kopf gestellt, und all diese Veränderungen dauerten an. Doch er musste akzeptieren, dass ihre Entscheidung – er war sicher, dass sie sich bewusst gegen den Kampf und für den Tod entschieden hatte – richtig war.
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