Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
schwarzen, halterlosen Strümpfen bekleidet fotografiert worden war. Welche weiteren Manipulationen er eventuell an seinem Opfer vorgenommen hatte, könnte sie erst auf den Fotos sehen - und auch das nur, wenn sie Glück hätten. Hundertprozentig sicher waren sich alle dahin gehend, dass es Fotos geben würde.
Nach dem dritten Pizzastück beendete Thal das Schweigen:
»Fassen wir zusammen, was bei dieser vierten Fotoserie anders ist:
Erstens: Die Frau war nackt, sieht man von den Strümpfen ab, die aber eher erotisches Accessoire sind.
Zweitens: Der Täter besorgte dieses Requisit vor der Tat.
Drittens: Wenn der Doktor sich nicht irrt und Catrin Scheffer uns hinsichtlich ihres Sexuallebens nicht belogen hat, berührte der Täter sie oder führte etwas in ihre Vagina ein.
Viertens – das ist auf jeden Fall neu – nahm der Fotograf ein Souvenir mit. Slip und BH des Opfers waren nicht aufzufinden.«
Stephanie Bohlmann hob ihre rechte Hand, bei der sie alle fünf Finger gespreizt hatte:
»Fünftens riskierte der Fotograf erstmals, sein Opfer an einem öffentlichen Ort zu fotografieren. In allen anderen Fällen waren es Wohnungen oder Hauseingänge bzw. eine geschlossene Zahnarztpraxis. Zumindest, soweit wir das wissen.«
»Sehr gut.«
Thal war zufrieden mit der Arbeit der jungen Kollegin. Er nahm die Plastikmineralwasserflasche in die Hand und prostete ihr zu:
»Bei Gelegenheit bekräftigen wir es noch mit einem Glas Rotwein, aber ich finde, wir sollten uns wie alle anderen duzen. Ich heiße Alexander.«
Stephanie Bohlmann brauchte zwei Sekunden, bis ein befreites Lächeln auf ihrem Gesicht erschien.
»Vielen Dank. Ich heiße Stephanie.«
Nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu:
»Mit P und H, auch wenn man es nicht hört.«
Damit löste sie eine Heiterkeit aus, welche die Anspannung der letzten Stunden löste.
»Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist«, unterbrach Bettina Berg das Gelächter.
»Ich gehe noch in der Zentrale vorbei. Wenn morgen ein Brief bei der Post eingeliefert wird, soll er von der Bereitschaft sofort ins Labor gebracht werden. Und dann ab ins Bett.«
***
Thal fühlt sich noch frisch. So ging es ihm oft nach einer intensiven Meditation, manchmal hielt es einen ganzen Tag an. Warum hatte er so lange darauf verzichtet?
Gleichzeitig war er in großer Sorge. Der Fotograf schien die Sache nicht mehr im Griff zu haben. Nur zu fotografieren, reichte ihm nicht mehr, er brauchte mehr, um den Kick zu bekommen, den er suchte. Er berührte sein Opfer in eindeutig sexueller Absicht, und er nahm die Unterwäsche mit. Beim nächsten Mal, fürchtete Thal, wird er zum Vergewaltiger. Und dann zum Mörder.
Thal verdrängte den Gedanken. Er setzte sich an den PC, um die heutige Arbeit zu Ende bringen, indem er die Fotos von Leahs Werken auf die Festplatte kopierte. Anschließend suchte er die qualitativ besten Fotos heraus. Neunundachtzig fertige Gemälde hatte er fotografiert - zumindest wirkten sie auf ihn vollendet, denn Leah hatte sie mit ihrem schwungvollen Pinselstrich signiert. Vier oder fünf begonnene Arbeiten ignorierte er.
Anschließend schrieb er eine E-Mail an den Galeristen, in dem er ihn um einen Vorschlag bat, wie man mit dem Vermächtnis von Leah Braasch am würdevollsten umgehen könnte. Ehe er die E-Mail abschickte, fiel sein Blick auf den abgehängten Bronski neben dem Sofa. Er stand auf, machte ein Foto, fügte es dem Anhang der E-Mail hinzu, die er mit einem P. S. ergänzte:
»Folgendes Bild von Bronski würde ich Ihnen gerne zum Verkauf anbieten. Ich erwarte Ihr Angebot.«
Es war ein Uhr zweiundvierzig, als er die E-Mail versendete.
***
Diesmal war es keine Guggemusik, die Thal um kurz vor sechs weckte, sondern das Klingeln des Telefons. Der Diensthabende in der Telefonzentrale des Präsidiums teilte ihm mit, dass erneut ein Brief angekommen sei. Er läge in der Technik.
Thal erhob sich mühsam aus dem Bett, in dem er sich vier Stunden von einer Seite auf die andere gewälzt hatte. Es war ihm nicht gelungen, seine wirren Gedanken zu beruhigen. Zu viele Fragen quälten ihn. Was sollte er ohne Leah aus seinem Leben machen? Sollte er dem Plan folgen, seine Arbeit aufgeben, alle Zelte abrechen und zum Nomaden werden, der mit offenen Augen durch die Welt zog? Aber was sollte er dort finden? Waren es nicht Leahs Augen, die gesehen und beobachtet hatten, um ihm die Welt zu erklären? Wäre er nicht blind, ohne sie? Blind wie im Fall
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