Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
des Fotografen. Sein Team hatte nichts anderes getan, als Akte für Akte, Fall für Fall alle Täter zu überprüfen, die er in den letzten Jahren hinter Gitter gebracht hatte. Ohne Ergebnis! Es musste um Persönlicheres gehen. Wer war der Mann? Was wollte er von ihm? Thal wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb, die Antwort zu finden. Bald würde der Fotograf Gewalt anwenden und am Ende sein Opfer töten. Wenn er nicht bereits gemordet hatte.
Thal duschte eiskalt. Fast zehn Minuten ließ er das Wasser in einem dicken Schwall auf seinen Körper prasseln. Er hätte lieber meditiert, seine Gedanken beruhigt und fokussiert, aber dafür war keine Zeit. Stattdessen bereitete er sich einen Espresso und versuchte, sich jedes Handgriffs und jeder Bewegung bewusst zu sein. Als der Kaffee in die Tasse lief, konzentrierte er sich zunächst auf das Geräusch, dann auf den Geruch. Erst nachdem er dem Duft bis in die letzten Papillen seiner Nase gefolgt war, trank er den ersten Schluck. Er spürte, wie sich das heiße Getränk in seinem Mund verteilte und am Zäpfchen vorbei die Speiseröhre hinunterlief. Er konnte den Lauf bis hinunter zum Mageneingang verfolgen. Zum Schluss konzentrierte er sich auf den Geschmack, der sich explosionsartig von der Oberseite des Gaumens im Mund ausbreitete. Erst nachdem sich das Aroma auf seinen Geschmacksnerven verloren hatte, leerte er die Tasse mit einem zweiten Schluck, bei dem er genauso verfuhr. Anschließend reinigte er mit routinierten, fließenden Bewegungen das Sieb der Maschine, spülte Tasse und Untertasse und trocknete sie sorgfältig ab. Auch wenn die Meister des Zen den Tee zum Zentrum ihrer Achtsamkeitsübung gemacht hatten, erzielte Thal mit seiner Kaffeezeremonie den gleichen Effekt.
»Sei dir allem, was du tust, bewusst.«
Nichts anderes hatte er getan, und wie immer hatte es funktioniert. Er fühlte sich zwar noch müde, aber sein Geist hörte auf, ihn mit wirren Vorstellungen zu terrorisieren.
Mit festem Schritt, den Mantel gegen die Kälte um den Körper gezogen, verließ er die Wohnung.
Bettina Berg, Stephanie Bohlmann und Klaus Wagner saßen um den Besprechungstisch, auf dem die heute Morgen eingegangenen sechs Fotografien in Postkartengröße ausgebreitet lagen. Thal grüßte die Kollegen knapp. Bild für Bild schaute er sich die Inszenierung des Fotografen mit dem Titel »Die Ekstase« an. Die Überschrift beschrieb treffend die Posen, in denen Catrin Scheffer zu sehen war. Sie war auf allen Fotos nackt bis auf die vom Täter mitgebrachten schwarzen Strümpfe. Auf den ersten drei Fotos trug sie außerdem ihre eigenen hochhackigen Pumps. Thal vermutete, dass die Schuhe von ihren Füßen gerutscht waren, als der Fotograf ihre Beine in die verschiedenen Posen rückte.
Alle Aufnahmen waren auf den Steinstufen vor dem Altar der Dreifaltigkeitskirche entstanden. Immer hatte das Opfer die Beine gespreizt, mal lagen sie ausgestreckt über die Stufen nach unten, mal waren sie angewinkelt, und die Fußsohlen berührten einander. Die Arme und Hände des Opfers hatte der Fotograf für jedes Foto in eine andere Position gebracht. Beim ersten Bild lagen sie auf dem Busen, beim zweiten unterhalb, als würden sie die Brüste anheben, um sie dem Betrachter zu präsentieren. Beim dritten Bild waren die Arme hinter dem Kopf verschränkt, beim vierten lagen die Hände auf den Oberschenkeln, und beim fünften Bild hatte der Fotograf Catrin Scheffers rechten Zeigefinger in ihre Vagina gesteckt. Am scheußlichsten war das letzte Bild. Das Opfer hielt einen braunen Lederhandschuh so zwischen beiden Händen, als masturbierte sie mit einem Handschuhfinger. Zudem hatte der Täter etwas unter den Kopf des Opfers gelegt, der leicht nach vorne gebeugt war. Catrin Scheffers Augen waren geöffnet, genauso ihr Mund, aus dem die Zungenspitze die Unterlippe berührte. Ein oberflächlicher Betrachter könnte zu dem Schluss kommen, das Modell dieser pornografischen Aufnahme habe Lust empfunden, als sie sich mit einem Handschuh, dessen Mittelfingerstück sie wie einen Dildo benutzte, selbst befriedigte. Erst ein genauerer Blick zeigte, dass die Augen keineswegs lustvoll, sondern leer ins Nichts starrten. Auch die Körperhaltung war verkrampft und nicht orgiastisch.
Die vier Polizisten rund um den Tisch brauchten einige Minuten, bis sich die Anspannung löste. Als Erster hielt es Klaus Wagner nicht mehr aus. Er sprang von seinem Stuhl auf und lief wie ein Raubtier im Käfig auf und ab.
»Verdammt
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