Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
folgte der Frau im Abstand von zehn Metern. Von der Rosgartenstraße bog sie links in die Kanzleistraße ein. Vor den Wühltischen einer Buchhandlung blieb sie stehen. Das sieht dir ähnlich, dass du solchen Schund liest. Er betrachtete die Auslagen in einem Haushaltswarengeschäft. Dabei sah er sie im Schaufensterglas. Sie nahm einige Bücher in die Hand und las die Klappentexte. Anscheinend fand keines ihr Interesse, denn sie schlenderte weiter. Nach zwanzig Metern betrat sie zielstrebig einen Teeladen. Mist. Schräg gegenüber bot ein älterer Türke heiße Maronen an. Er kaufte eine Tüte und tat so, als würde er eine Kastanie schälen, was seine volle Konzentration forderte, sodass er nur langsam weitergehen konnte. Trotzdem hatte er fast den Obermarkt erreicht, bevor er das laute Klacken von Frauenabsätzen hinter sich hörte. Er blieb am Schaufenster des Schuhladens an der Ecke zur Hussenstraße stehen. Verdammt! Sie stellte sich fast neben ihn und betrachtete ebenfalls die Auslagen. Sie kam ihm so nah, dass er ihr Parfum riechen konnte. Zu schwer für seinen Geschmack, andererseits passend zu ihrer Kleidung. Nach einer halben Minute, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, ging die Frau endlich weiter. Sie bog in die Wessenbergstraße ein. Bingo! Wenn sie jetzt ein Lokal betrat, würde er ihr folgen. Stattdessen blieb sie schon wieder vor einem Schuhgeschäft stehen, sie schien sich ernsthaft dafür zu interessieren. Man brauchte sich ja nur ihre Stiefel anzusehen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie ein weiteres Mal zu überholen, betont langsam und immer noch auf die Maronen in seiner Hand starrend. Er war zehn Meter gegangen, als sie ihn erneut einholte. Sie wechselte von der linken auf die rechte Straßenseite und betrat ein Café. Heute war sein Glückstag. Er beschleunigte seine Schritte und trat direkt hinter ihr durch die Tür, über der als Name des Lokals »Voglhaus« stand. Er wunderte sich einen Moment über die falsche Orthografie, konzentrierte sich im Übrigen aber auf sein Werk. Das Café war proppenvoll, die Schlange an der Theke rückte nur langsam vor. Der junge Mann an der Kaffeemaschine schien noch nicht routiniert.
Er wettete mit sich selbst, dass sein Modell der Latte-macchiato-Typ sei, und verlor, denn sie verlangte einen Glühwein. Kurze Zeit später kam er an die Reihe und bestellte eine heiße Zitrone. In dem Raum rechts von der Theke saßen die Gäste in einer Art Miniaturamphitheater auf treppenähnlichen Sitzen. Die Frau wählte einen Platz in der oberen Reihe. Der Sitz daneben war frei. Es gab keine Zufälle. Als er sich setzte, rempelte er die Frau wie zufällig an. Er entschuldigte sich gestenreich. Sie blickte ihn genervt an. Was für Augen! Tiefschwarz mit riesigen Wimpern. Nicht ablenken lassen. Jetzt musste er sich genau konzentrieren. Heute musste alles viel schneller gehen. Gestern hatte er sich Zeit lassen können. Heute nicht.
***
Thal hatte die Anlegestelle des Katamarans in letzter Minute erreicht. Kaum betrat er das Schiff namens Constanze, legte es ab. Er ging in den Innenraum und setzte sich auf einen der zahlreichen freien Plätze. Mit ihm nutzten nur acht weitere Passagiere die schnelle Verbindung zwischen den größten Städten am Bodensee. In knapp fünfzig Minuten würde er im Zentrum Friedrichshafens sein, das war mit keinem anderen Verkehrsmittel zu schaffen. Thal schaute sich in dem klimatisierten Raum um, der ihn an eine Flugzeugkabine erinnerte. In den bequemen Sesseln saßen an der Kleidung leicht erkennbar hauptsächlich Geschäftsleute. Einige lasen Zeitung, andere hatten ihr Notebook geöffnet und nutzten den Internetzugang an Bord. Nichts erinnerte an eine Schiffsreise. Wie schön war es dagegen, im Sommer mit einem der alten Bodenseeschiffe zu fahren. Man konnte sich mit einem Glas kühlen Weins an Deck setzen und die Landschaft an sich vorbeiziehen lassen, während das Schiff von Anlegestelle zu Anlegestelle tuckerte. So stellte er sich eine Reise auf dem See vor. Der Katamaran war in Stahl und Fieberglas gegossene Funktionalität.
Thal überlegte kurz, ob er sich an der Theke einen Kaffee holen sollte, ließ es aber, denn er wäre enttäuscht worden. Stattdessen zog er sein Notizbuch aus der Tasche und blickte erneut auf Leahs Signatur. Sie hatte das silbrig glänzende Etui, an dessen Rand ein ebenfalls silberner, winziger Kugelschreiber steckte, vor Jahren in einem Antiquitätengeschäft in Siena gekauft und von einem
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