Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
gebrauchen, vor allem, wenn man an die Zeit nach dem Krieg denkt
und sich alle Optionen offen halten will. Roeloffs hat nie eigene
Entscheidungen getroffen, er war ein typischer Rückversicherer. Aber du hast
natürlich recht: Ich werde am Montag gezielt nach Verbindungen zwischen Roeloffs,
Petersen und Jessen suchen. Wenn ich da etwas herausfinde, sind wir einen
großen Schritt weiter, das fühle ich.«
Brodersen war so sehr in seinem Element und verstand es,
derart zu fesseln, dass die Stunden verrannen und Leander und Lena sich erst
lange nach Einbruch der Dunkelheit auf den Rückweg machten. Leander lieh sich
das Buch über die Fluchthilfe-Organisationen aus, um es in Ruhe gründlich
studieren zu können, dann zogen sie sich ihre Mantelkragen hoch und
verabschiedeten sich von Tom Brodersen. Sie hatten in den letzten Stunden drei
Flaschen Rotwein geleert, und entsprechend angeheitert und auf leichten Beinen
ging es nun hinaus in die eisige Kälte.
Es hatte wieder angefangen zu schneien, und eine dicke
Schneeschicht bedeckte die Reetdachhäuser im alten Dorfkern von Boldixum. Sie
wählten absichtlich den Weg durch den Holm und sahen die alte Siedlung nun mit
ganz anderen Augen, viel bewusster, nachdem sie die historischen Zusammenhänge
kannten. Unvorstellbar, was sich im Laufe der Jahrhunderte hinter diesen
romantischen Fassaden zugetragen hatte! Leander nahm sich vor, seine Zeit auf
der Insel zu nutzen, um sich noch intensiver von Tom Brodersen in die
Inselgeschichte einführen zu lassen.
14
Sonntag, 28. Dezember
Nachdem sie am Abend gleich ins Bett gegangen waren, war
Leander an diesem Morgen viel zu früh wach. Lena lag gleichmäßig atmend neben
ihm, und er beneidete sie einmal mehr für ihre innere Ruhe und
Ausgeglichenheit. Vorsichtig schlug er die Bettdecke zurück und stand auf. Im
Zimmer war es eiskalt, die Scheiben waren von innen beschlagen und zeigten
Ansätze von Eisblumen. Mein Gott, wie lange hatte er so etwas schon nicht mehr
gesehen? Heutzutage waren die Häuser so isoliert und durch die Zentralheizungen
temperiert, dass Eisblumen endgültig der Vergangenheit anzugehören schienen.
Leander zog sich im Badezimmer einen dicken Frotteebademantel
seines Großvaters über und stapfte in seinen Hauslatschen die Treppe hinunter.
Zunächst entfachte er das Kaminfeuer im Wohnzimmer, dann setzte er Wasser für
einen heißen Kaffee auf. Zurück in der Wohnstube, setzte er sich in den
Ohrensessel und nahm sich das Buch über den norddeutschen Widerstand, das er am
Abend zuvor auf dem Tisch abgelegt hatte. Während das Feuer im Kamin knisterte
und langsam eine intensive Wärme verbreitete, blätterte er durch die Kapitel
und las, was Professor Carstens über die Fluchthilfe-Organisation Heinrich
Leanders und seiner Freunde zusammengetragen hatte. Zwischendurch rief ihn der
Wasserkessel in die Küche, wo Leander Kaffee aufbrühte, den er mit einem
Stövchen und einer Tasse mit ins Wohnzimmer nahm, um seine Lektüre dort
fortzusetzen.
Zu seiner Enttäuschung erfuhr er nur wenig Neues. Lang und
breit wurden die Fakten dargelegt, die Leander bereits von Tom Brodersen
kannte. Die Zeugenaussagen und -berichte, die Carstens zusammengetragen hatte,
waren eindeutig und ließen keinerlei Zweifel an der Ehrenhaftigkeit der mutigen
jungen Männer aufkommen. Und es gab nicht nur Insulaner, die dies bezeugten,
auch einige Flüchtlinge in England und Amerika hatte Carstens kontaktiert, und
sie alle bestätigten die offizielle Darstellung.
Was, verdammt nochmal, hatte seinen Vater veranlasst, dem
Ganzen nicht zu trauen? War es die prinzipielle Kritik seiner Generation, der
68er, an den Vätern gewesen? Konnte er als Wissenschaftler derart borniert und
unwissenschaftlich gearbeitet haben? Oder hatte er etwas gewusst, das so
gravierend war, dass er seinen eigenen Vater vor einer Veröffentlichung
schützen wollte? Hätte er dann das Thema seinem Kollegen überlassen, der ja
ebenfalls auf Widersprüche hätte stoßen können? Leander merkte, dass er auf
diese alles entscheidenden Fragen durch das Buch keine Antworten bekommen
würde. Er beschloss, Eiken aufzusuchen und sie um Hilfe zu bitten.
In diesem Moment legten sich Lenas Arme von hinten um seinen
Hals, und sie drückte sich fest an ihn.
»Schon wieder fleißig?«, spottete sie mit einem sanften
Unterton.
Leander legte das Buch auf
den Tisch und zog sie eng an sich.
»Der Kaffee ist noch heiß, hol dir eine Tasse aus der Küche«,
sagte Leander.
Lena nahm
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