Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
ihm offensichtlich nach einem einzigen Treffen von nur
wenigen Tagen so sehr vertraut hatte, dass er ihm alles überließ, sein ganzes
Hab und Gut. Auch wenn ein alter Fischer außer seinem Haus und dem nun zerstörten
Kutter nicht viel besitzen konnte – das Wenige war darum umso wertvoller. Und
dann kam das Schuldgefühl. Wie konnte Leander nur so egoistisch und herzlos
sein und, kaum dass sein Großvater tot war, nur noch an das Erbe denken?
Unsinn!, beschied er sich. Wer hatte etwas davon, wenn er sich
jetzt in Selbstmitleid und Selbstvorwürfen verlor? Damit war niemandem gedient,
seinem toten Großvater schon gar nicht. Und der hätte das auch niemals gewollt.
Stattdessen hätte er erwartet, dass sein Enkel die Dinge aktiv in die Hand
nahm. Warum wohl sonst hatte er ihn zu sich nach Föhr gerufen? Das war ein
Hilferuf gewesen!
Leander beschloss, eine Bestandsaufnahme zu machen und dabei
auf die Suche nach den Unterlagen zu gehen, die er für den Notar und die
Versicherung brauchte. Dabei würde er sicher schnell einen Überblick bekommen.
Außerdem konnte er so mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: sich häuslich
einrichten, seinen Großvater posthum näher kennenlernen und nach Hinweisen für
die Ursache seines Todes suchen. Und vielleicht würde er sogar seinem eigenen
Familiengeheimnis dabei Schritt für Schritt näherkommen.
Nachdem er die Küche aufgeräumt hatte, machte er sich sofort
daran, im Schlafzimmer den Schrank und die Schubladen der Kommode und des
Nachttischchens auszuräumen. Sie waren natürlich vollgestopft mit den Kleidungsstücken
seines Großvaters. Leander steckte die Sachen in blaue Säcke, von denen er im
Vorratsraum eine Rolle gefunden hatte. Hoffentlich gab es auf der Insel eine Möglichkeit,
die Kleidung abzugeben – AWO, Caritas, Rotes Kreuz, etwas in der Art.
Während er in den Sachen seines Großvaters wühlte, überkam ihn
das beklemmende Gefühl, gewaltsam in das Leben eines Fremden einzudringen. Jede
Schublade wies auf die Eigenarten und Besonderheiten des alten Mannes hin. Er
hatte schließlich seine Unterhosen nicht mit dem Gedanken daran einsortiert,
dass nun sein Enkel darin herumwühlen würde. Konnte man einen Menschen, der vor
wenigen Stunden noch gelebt hatte, denn so schnell abwickeln? Durfte man Kleidungsstücke
und Gegenstände, die er wertgeschätzt hatte, einfach so aussortieren und
wegwerfen, auch wenn sie für einen selbst gar keinen Wert besaßen und zum Teil
einfach nur abgenutzt wirkten?
Leander beschloss, nur das Notwendigste zu machen und die
übrigen Dinge zunächst unangetastet zu lassen. Die wenigen Tage, die er im
Sommer mit dem alten Mann verbracht hatte, waren nicht ausreichend gewesen, um
familiäre Vertrautheit entstehen zu lassen. Sie hatten ein Anfang sein sollen,
dem längere Aufenthalte auf der Insel folgen sollten. Wenn er Pech hatte, ruhte
mit dem alten Hinnerk der Schlüssel zu seiner eigenen Geschichte nun für immer
verloren auf dem Grund der Nordsee.
Die Kleidung, die Leander aus den Fächern zog, hatte für ihn
keinerlei Wiedererkennungswert und ließ kein Gefühl von Vertrautheit zu. Ein
Haus, in dem lange Zeit jemand gelebt hat, ist so etwas wie ein eigener
Organismus, ein selbständiger Kosmos mit einem autonomen System. Jeder Eingriff
von außen brachte das System durcheinander, zerstörte den Kosmos. Frau Husens
Reaktion darauf wollte er sich lieber gar nicht erst vorstellen. Leander
beschloss, die Trennung schonend zu vollziehen. Er dachte daran, wie wütend er
immer geworden war, wenn Inka sein scheinbar chaotisches Arbeitszimmer aufgeräumt
hatte. Er hatte danach nichts mehr wiedergefunden, sein ganzes System, das sich
in seinem Chaos wie von selbst bewahrte, war durcheinandergeraten, nichts
funktionierte mehr. Das System, das er selbst nun zerstörte, hatte hingegen den
Vorteil, ausgedient zu haben, und trotzdem erschien es Leander, als begehe er
ein Sakrileg.
Als die Schränke und Schubladen leer waren, räumte er seine
paar Sachen ein. Die schmale Treppe kostete ihn einige Anstrengung, als er die
Koffer hochtrug, die er mitgebracht hatte. Im Vorratsraum fand er schließlich
eine halbvolle Mineralwasserkiste. Er zog eine Flasche heraus und setzte sich
damit in den gemütlichen alten Ohrensessel im Wohnzimmer.
Wieder ließ er die Bilder des Sommers vortreten und verglich
sie mit dem, was er nun sah, aber er kam einfach nicht darauf, was sich in
diesem Raum verändert hatte. Die geweißten Wände allein waren es
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