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Leander und der tiefe Frieden (German Edition)

Leander und der tiefe Frieden (German Edition)

Titel: Leander und der tiefe Frieden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Breuer
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jedenfalls
nicht.
    Draußen war es längst dunkel geworden. Die Standuhr in der Ecke
war stehen geblieben, aber Leanders Armbanduhr zeigte 18.47 Uhr an. Er trank
aus der Flasche und schloss die Augen. Wie lange hatte er auf solch einen
Moment gewartet – nun war er gekommen, und Leander konnte es nicht begreifen.
Er saß hier weit weg von allen Verpflichtungen und Fremdbestimmungen. Wie schön
wäre es, von nun an nur noch sich selbst gegenüber verantwortlich zu sein, sich
seinen eigenen Lebensrhythmus zugestehen zu können, ohne Druck von außen und
ständig schlechtes Gewissen. Auf so einer Insel war das Leben überschaubar,
hier verlief die Welt noch in traditionellen Bahnen – mit ihrer Enge,
sicherlich, aber vor allem mit ihrer Gewissheit. Was würde es ihn in seiner
Fischerkate kümmern, ob sich die Tschetschenen und Vietnamesen in Kiel
gegenseitig die Bäuche aufschlitzten? Ob sich Politiker allein dadurch profilierten,
dass sie ihre Gegner beleidigten und heruntermachten, anstatt etwas gegen die
ständig wachsende organisierte Kriminalität in Deutschland zu unternehmen? Sollten
sie doch selbst Teil davon werden und die Demokratie zu Grunde richten – ihn,
Leander, würde das alles nichts mehr angehen. Er hätte sein Refugium, seine
Enklave, in der er genesen könnte. In diesem Moment stand für ihn fest: Dafür,
und nur dafür allein, würde er sich von nun an Zeit nehmen. Manchmal half eben
nur eine Amputation, eine Totaloperation, wenn man ein Leben retten wollte.
Aber wie sollte er ein solches Leben finanzieren?
    Leanders Magenknurren machte dieses Problem greifbar, indem es
ihn daran erinnerte, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Zum
Kochen hatte er keine Lust mehr, und so beschloss er, die Wyker Gastronomie
auszuprobieren. Er erhob sich aus seinem Sessel, zog seine Schuhe und den
dicken Wintermantel an und steckte den Haustürschlüssel in die Tasche. Dann
verließ er sein neues Zuhause und trat hinaus auf die Straße. Es hatte offenbar
den ganzen Nachmittag über geschneit, denn eine dicke Schneedecke lag auf
Straße, Bürgersteig und Hausdächern und knirschte unter Leanders Schritten.
Jetzt schneite es nicht mehr, der schwarze Himmel ließ sogar ein paar Sterne
funkeln. In den Gassen war es windstill, durch zugezogene Vorhänge drang ein
schwacher Schimmer auf die Straße, es war winterlich still. Menschen begegnete
Leander erst in der Fußgängerzone, aber auch dort nur wenigen, denn schließlich
war Abendbrotzeit.
    Er wandte sich in der Mittelstraße nach links und lief im
Zusammentreffen mit der Großen Straße geradewegs auf das Hotel Colosseum zu. Durch die Fenster blickte er in einen gediegenen und überfüllten Gastraum
mit heimeliger Beleuchtung und der senilen Atmosphäre des Ohnsorgtheaters. Zum
Glück war hier kein Tisch mehr frei. Rechts, an einem Tisch auf einem kleinen
Podest, erblickte Leander Bennings und Dernau, die beiden Kommissare aus
Flensburg. Ein Grund mehr, das Restaurant zu meiden. Sie würden ihm das
Abendessen gänzlich verleiden mit ihrem professionellen, aber verständlichen
Misstrauen.
    Leander blickte nach links in Richtung Badestraße. An der
rechten Straßenecke machte er ein Wirtshausschild aus, das mit Ratsherren-Pils lockte. Dorthin wandte er sich. Über dem Eingang der Gaststätte, die so
unspektakulär und wenig einladend aussah, dass Leander sie am Morgen gar nicht
wahrgenommen hatte, stand Haus der Landwirte .
    Merkwürdiger Name für ein Restaurant, dachte Leander, stieg
aber dennoch die wenigen Stufen zur Tür hinauf, da er keine Lust hatte, jetzt
noch auf die Suche nach einem anderen Lokal zu gehen.
    Die Gemütlichkeit der Gaststube war entsprechend überraschend.
Die Schlichtheit der geradezu spartanischen Ausstattung traf eher Leanders
Geschmack als die in Plüsch und Holz umgesetzte Vorstellung bayerischer
Touristen, die er durch die Fenster des Colosseums wahrgenommen hatte.
An wenigen Tischen saßen Gäste, meist ältere Paare, so dass Leander sogar noch
einen Tisch an einem Fenster mit Blick auf die verschneite Boldixumer Straße
fand.
    Ein mürrischer Wirt mit verschlossenem Gesicht trat an Leanders
Tisch und legte, ohne einen Gruß für ihn übrig zu haben, die Karte vor ihn auf
die Holzplatte. Mit einem Einwegfeuerzeug entzündete er die Kerze, die neben
einem kleinen Weihnachtsstern in der Tischmitte stand. Dann verharrte er neben
Leander, der vermutete, dass der Wirt die Getränkebestellung erwartete.
    »Ein Bier, bitte«,

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