Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
habe das Gefühl, dass er mich komplett auffrisst und meine ganze Energie
raubt, die ich eigentlich zum Leben brauche. Außerdem kommt er mir immer
sinnloser vor. Ich fühle mich wie Don Quixote bei seinen aussichtslosen
Angriffen auf die Windmühlenflügel.«
»Ich habe den Eindruck, du steckst mitten in der
Midlife-Crisis«, bemerkte Lena, und Leander spürte, dass sie das ausnahmsweise
mal nicht als Scherz meinte.
»Vielleicht ist es das«, gestand er ein, »vielleicht ist es
aber auch mehr. Hast du nicht auch das Gefühl, dass wir nur noch ein Alibi für
die sind, die nicht einmal mehr heimlich, sondern in aller Öffentlichkeit den
Staat ausbeuten und sich sattfressen, während Millionen von Menschen gerade
einmal so leben können und von ihren mickrigen Einnahmen auch noch die
Staatslasten zu finanzieren haben? Guck dir nur die Bankmanager an, die die
Finanzkrise verursacht haben. Zahlen die etwa die Zeche? Natürlich nicht: Die
Steuerzahler haften, weil die Banken angeblich ›systemrelevant‹ sind.
Systemrelevant, verstehst du? Banken sind für das System relevant, Menschen
nicht. Wir privatisieren alle Gewinne und sozialisieren die Verluste. Das
Risiko trägt nicht mehr der zockende Unternehmer, sondern der Steuerzahler. Und
wenn es dann Essig ist mit dem sozialen Frieden, weil die Schere zwischen Arm
und Reich immer weiter auseinander geht, dann werden wir Polizisten eingesetzt,
um im Namen des Staates gegen die falsche Seite vorzugehen. Das ist doch krank.
Die Wirtschaft denkt nur noch von Quartal zu Quartal und in Börsenkursen. Und
die Politik, wenn es hoch kommt, von Legislaturperiode zu Legislaturperiode.
Wenn der Machtverlust droht, macht man halt schnell mal zwischendurch eine
180-Grad-Wende. Was ist denn schon dabei, wenn man keine Prinzipien mehr hat?
Nur, Lena, wofür stehen wir dann noch gerade? Was verteidigen wir da
eigentlich?Manchmal glaube ich, es gibt uns nur noch, damit der
Anschein einer funktionierenden Rechtsordnung gewahrt bleibt. Wenn das keine
Feigenblattfunktion ist!«
»Du dramatisierst die Sache«, warf Lena vorsichtig ein.
»Nein, Lena. Die Realität ist viel dramatischer, als ich sie
mir ausmalen kann. Wie lange ermitteln wir schon gegen die internationale
Waffenmafia? Ich weiß das, schließlich habe ich jahrelang die internationale
Zusammenarbeit koordiniert. Wie viele Stunden kommen alleine bei deinem
Observationsteam zusammen? Von den monatelangen Auswertungen der Ergebnisse
will ich gar nicht erst reden. Wir vom LKA treten andauernd der Kripo auf die
Füße, wenn sie in einem Mordfall ermittelt, den wir als Szenemord innerhalb
einer Organisation einstufen und an uns ziehen, weil wir ein angeblich höheres
Interesse verfolgen. Dabei lassen wir den Killer laufen, den die Kollegen einkassieren
wollen, in der Hoffnung, die Auftraggeber nicht aufzuscheuchen und unsere
jahrelange Ermittlungsarbeit zu gefährden. Und wenn wir dann eine Spur
verfolgen, kommt uns wiederum das BKA in die Quere. Die verfolgen nämlich ein
noch höheres Interesse als wir. Und was kommt am Ende dabei heraus? Vor lauter
hohen und höchsten Interessen wird das BKA vom Innenministerium zurückgepfiffen,
wenn nicht gar vom Auswärtigen Amt, weil man diplomatische Verwicklungen mit
Italien oder Russland befürchtet. Jetzt sprechen wir davon, Europol zu einer
schlagkräftigen Truppe auszubauen. Ich wage gar nicht, mir vorzustellen, welch
höchste Interessen da dann im Vordergrund stehen werden. Wir verlieren uns in
der Unübersichtlichkeit von Strukturen, während das Verbrechen immer effektiver
arbeitet. Und ich fürchte, dass dahinter sogar eine Absicht steckt: Wir
gefährden nämlich mit unserer teuren und von den Steuerzahlern finanzierten
Arbeit den reibungslosen Ablauf illegaler Waffengeschäfte, die allesamt im
höchsten deutschen Wirtschaftsinteresse abgewickelt werden und deshalb in
Wahrheit den Schutz des Kanzleramtes genießen. Und deshalb dürfen wir nicht
erfolgreich sein und damit unsere eigentliche Aufgabe erfüllen. Wenn das nicht
zum Kotzen ist!«
»Du bist einfach überarbeitet, Henning«, beschwichtigte Lena.
»Du brauchst eine Auszeit.«
»Da hast du allerdings recht. Nur, woher kommt das? Doch wohl
daher, dass unsere Arbeit so sinnlos ist. Wir haben mittlerweile Verhältnisse,
die nicht besser sind als die in Italien oder Russland. Das ertrage ich nicht
mehr, Lena! Kannst du das nicht nachvollziehen? Habe ich so unrecht?«
Lena antwortete nicht gleich. Sie suchte sichtlich nach
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