Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
zu schützen.
»Interessanter als das alles ist aber, was ich eben gefunden
habe«, berichtete er dann und schob seinen leergegessenen Teller zur Seite, um
Platz für den Ordner zu machen. »In diesem Ringbuch befinden sich
Zeitungsartikel aus der Inselgeschichte. Es fängt in der Nachkriegszeit an.«
Leander schob den Ordner so zurecht, dass Lena mit hineinsehen
konnte.
»Dieser Bericht handelt von der Besetzung Norddeutschlands
durch die Engländer. Nach Befreiung hört sich das allerdings nicht an, eher nach
feindlicher Eroberung. Die Insulaner scheinen unter dem Naziregime nicht so
gelitten zu haben, dass sie froh waren, als die Alliierten kamen.«
»Das wundert mich nicht«, erklärte Lena. »Ich habe mal irgendwo
gelesen, dass die Friesen ein derart überzogenes Nationalgefühl hatten, dass
sie sich mit der völkischen Nazi-Ideologie gut arrangieren konnten.«
»Den Eindruck habe ich auch. Im Laufe der Zeit scheint sich das
Verhältnis zu den Besatzern allerdings gebessert zu haben. In diesem Artikel
über die gelungene Entnazifizierung der Insulaner tauchen sogar Namen auf, die
wir kennen. Hinnerk und seine alten Freunde werden nicht nur als unbelastet
aufgeführt, sondern sie werden sogar als Helden gefeiert. Sieh dir das an, in
diesem Artikel steht, sie hätten zahlreiche Menschenleben gerettet, indem sie
Juden und andere Verfolgte über die Nordsee ins Ausland gebracht hätten.«
»Aber das ist doch nichts Neues. Du hast mir doch erzählt, sie
hätten dafür sogar das Bundesverdienstkreuz bekommen.«
»Das stimmt, aber in diesem Zusammenhang der Zeitungsartikel
bekommt das eine neue Qualität.«
Lena schaute ihn verständnislos an.
»Schau«, erklärte Leander.
»Da ist eine Insel mit völkisch gesinnten Friesen. Als das Nazizeitalter zu
Ende geht, müssen sie zusehen, wie ihre langjährigen Feinde das Regiment
übernehmen und ihnen vor Augen führen, dass alles falsch war, woran sie zwölf
Jahre lang geglaubt haben. Damals wehrte man sich heftig gegen den Gedanken
einer Kollektivschuld. Und während ganz Deutschland damit beschäftigt war, sich
verzweifelt zu entnazifizieren und die eigene Schuld zu verdrängen, wurde
bekannt, dass es auf der Insel nicht nur keine Nazis, sondern sogar Regimegegner
und wahre Helden gegeben hat. Lies den Artikel, und du siehst, wie das gefeiert
wurde. Hinnerk und seine Freunde waren so etwas wie ein Persilschein für die
ganze Insel. Hier: Claus Petersen und Enno Jessen erklärten stolz, sie
hätten auf der Insel nichts zu befürchten gehabt. Im Gegenteil: Sie hätten
überall nur Unterstützung erfahren. Verstehst du? Von da an konnten sich
die Insulaner sicher sein, dass ihnen nichts geschehen würde. Sie standen unter
dem Schutz der fünf Helden von Föhr.«
»Ich verstehe, was du meinst«, stimmte Lena zu. »Im Gegenzug
konnten sich die fünf nach dem Krieg sicher sein, dass sie jede Unterstützung
von den Engländern und von den übrigen Insulanern erhalten würden. Von nun an waren
die Menschen auf Föhr ihnen verpflichtet.«
»Exakt! Claus Petersen war bestimmt fortan die erste Adresse in
allen Rechtsfragen und Streitigkeiten mit den Besatzern. Und Enno Jessen
brauchte garantiert nur Interesse an einem Haus oder Grundstück zu äußern, das
verkauft werden sollte, und er bekam den Zuschlag, ganz zu schweigen von dem
öffentlichen Besitz, der nach dem Krieg privatisiert wurde.«
»Und die Freunde der beiden Oberindianer partizipierten daran.
So ein gemeinsamer Heldenmythos schweißt ein Leben lang zusammen«, ergänzte
Lena.
Leander lehnte sich zurück und faltete die Hände vor der Brust.
»So wird ein Schuh daraus. Jetzt ist mir klar, warum ein Notar
und ein Makler so unbedeutende Zeitgenossen wie einen Fischer, einen Fotografen
und einen kleinen Galeristen an ihren einträglichen Geschäften beteiligt haben.
Du kannst sagen, was du willst, aber solche Bande sind fester als die bloße
Freundschaft alter Jugendgefährten. Fragt sich nur, was die drei zu erzählen
gehabt hätten.«
»Du witterst Erpressung oder gar eine Verschwörung?«, hakte
Lena nach. »Du denkst, dieses Gentlemen’s Agreement habe nur deshalb sechzig
Jahre lang gehalten, weil es ein Geheimnis gibt, das selbst heute noch
gefährlich sein könnte, wenn einer der Freunde sein Schweigen bricht?«
»Der Verdacht liegt nahe, oder?«
»Und schon hätten wir ein Motiv für einen Mord. Dein Großvater
bekommt Kontakt zu dir, seinem Enkel, den er so lange nicht kennengelernt hat.
Solange
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