Leander und die Stille der Koje (German Edition)
Dorf einen ersten Halt am Andelhof einzulegen. Hier schien alles in Ordnung zu sein. Die Scheune war verschlossen, der Unterstand vollkommen intakt, weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Albertsen gönnte sich einen Blick durch die Beobachtungsluken im Unterstand auf die große Wasserfläche, die Wieses ganzer Stolz war. Außer einem Grünschenkel, dem der rechte Fuß fehlte und der deshalb unsicher schwankend wechselseitig auf seinem Stumpf und dem verbliebenen linken Fuß durch den flachen Schlickgürtel wankte, war kein Watvogel zu erblicken. Dieses verletzte Tier war häufig hier, vermutlich war ihm die Nahrungssuche draußen im Watt zu anstrengend. Seine anderen Artgenossen waren unterwegs zu den langsam frei werdenden Schlickflächen.
Da hier offensichtlich alles in Ordnung war, setzte sich Albertsen wieder in seinen Wagen und fuhr zurück auf die Hauptstraße. Drüben an den anderen renaturierten Flächen würde er sicher nicht alles unversehrt vorfinden. Vorsichtshalber hatte er genau wie Günter Wiese immer Werkzeug im Kofferraum. Da vermutlich die ganze Insel inzwischen von Wieses Krankenhausaufenthalt wusste, ahnte Melf Albertsen, dass die Schäden heute umfangreicher als sonst sein würden, denn keiner der Randalierer musste ja befürchten, von Günter Wiese in flagranti erwischt zu werden.
Nach einigen Kilometern bog Albertsen wieder links in einen Wirtschaftsweg ein, der sich nun lang und gerade durch die Marsch erstreckte, bis er vor dem Deich sein abruptes Ende fand. Der Bodenbelag war alles andere als sicher, tiefe Schlaglöcher schaukelten Melf Albertsen heftig durcheinander, und so war er gezwungen, langsam und vorsichtig zu fahren. Die Fläche 8 befand sich in demselben Zustand wie schon während der letzten Tage: Der Unterstand war zerstört, die Tür aufgebrochen, das Tarnnetz zerrissen. Von hier aus ließ sich kein Tier mehr beobachten, weil es kein Versteck mehr war. Günter Wiese hatte alles notdürftig repariert, aber gleich am nächsten Tag war es wieder zerstört gewesen. Für Melf Albertsen war das heute eine zu große Aufgabe, lieber würde er in den nächsten Tagen mit Günter Wiese zurückkommen, wenn der wieder einsatzfähig war.
Also setzte sich Albertsen wieder in seinen Golf, wendete ihn vorsichtig an einer etwas breiteren Wegstelle durch mehrfaches Vor- und Zurücksetzen und kehrte zur Hauptstraße zurück. Er musste sich beeilen, wenn er Wiese noch besuchen und nicht allzu spät wieder zu Hause sein wollte. Entsprechend nutzte er die paar Kilometer Hauptstraße, um richtig Gas zu geben, und bog schließlich mit Schwung in einen weiteren Wirtschaftsweg nach rechts ab.
Der Schotter spritzte auf, der Wagen schlingerte, gerade noch rechtzeitig gelang Albertsen ein Schlenker um ein besonders tiefes Loch herum. Da gab es einen heftigen Schlag am linken Vorderrad, und der Wagen brach nach links aus. Albertsen schrie auf, versuchte noch gegenzulenken, aber es war zu spät. Das Letzte, was er hörte, waren ein lautes Kreischen und ein metallisches Schleifen.
Henning Leander stellte die beiden Fahrräder vor der Zentralstation ab und bemerkte nun, dass er vergessen hatte, auch Schlösser dazu zu kaufen. Egal, hier direkt an der Polizeiwache würde schon niemand Fahrräder stehlen. Er beeilte sich, aus der Hitze heraus und in die Kühle der Wache zu gelangen, und war einigermaßen erstaunt, dass hier niemand hinter dem Tresen saß.
»Hallo!«, rief er. »Keiner zu Hause?«
Die Tür zum Nebenbüro öffnete sich, und Dieter Bennings steckte den Kopf heraus. »Henning! Wir sind hier. Olufs und Vedder haben einen Auftrag, also halten wir alleine die Stellung.«
Leander folgte ihm in das Büro und begegnete einigermaßen enttäuscht Lenas erstauntem Blick. Was er sich für einen Empfang vorgestellt hatte, hätte er selbst nicht sagen können, aber dass er sich hier als Fremdkörper fühlte, passte ihm gar nicht. »Eigentlich habe ich gedacht, ich könnte dich heute etwas eher abholen. Ich habe draußen eine Überraschung für dich.«
Lena blickte ihn entschuldigend an. »Tut mir leid, aber daraus wird nichts. Ich brüte noch über den Berichten. Die will ich heute noch fertig haben.«
»Ach was«, entgegnete Dieter Bennings, »das übernehme ich. Geh du nach Hause. Ich habe ohnehin erst heute Abend etwas vor.«
»Eiken?«, fragte Lena und zwinkerte ihm zu.
Bennings nickte grinsend wie ein Teenager.
»Gut, aber was du nicht schaffst, lässt du liegen.« Lena schob ihren Stuhl
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