Leander und die Stille der Koje (German Edition)
ganzen Insel zu sein, die heute von einer erbarmungslosen Sonne in einen Brutkasten verwandelt wurde.
Die Kratzspuren an der Fahrerseite entsprachen genau denen an Ole Paulsens Pkw, nur dass diese hier eher passiven Ursprungs waren. Offensichtlich war Paulsen mit seinem Wagen mit relativer Wucht schräg seitlich in den rückwärts fahrenden Transporter geknallt. Die Kratzspuren saßen in einer größeren Delle und waren tief in den Lack gefressen. Stellenweise blinkte das Silber des Blechs durch, und auch etwas von dem grünen Lack des anderen Fahrzeugs hatte sich hier verewigt. Paul Woyke ließ sich von Helge Dulz einen Plastikbeutel geben und kratzte etwas davon mit dem Taschenmesser dort hinein. Dann bat er den Kriminaltechniker, mit der Digitalkamera Fotos von dem Schaden zu machen.
Woyke selbst nahm sich die Spuren auf dem Weg vor. Zunächst fand er nichts Auffälliges, lediglich die seitlich verlaufenden Schleifrillen der Reifen des Transporters, die tief in den staubigen Belag des Weges eingefressen waren. Erst als er einige Meter weitergegangen war, entdeckte er weiße Splitter im Schotter des Weges. Das mussten die Reste des zerschossenen Scheinwerferglases von Wieses Transporter sein. Auffällig war nun, dass diese Glassplitter an zwei Stellen lagen, die sich direkt nebeneinander befanden.
Er wies seinen Kollegen Dulz, der ihm inzwischen gefolgt war, darauf hin: »Fotografier das mal, und achte darauf, dass die Lage der Scherben auf den Fotos deutlich wird. Danach pack die Splitter ein.«
Woyke suchte den Weg noch einige Meter weiter ab, bis er zu der Stelle kam, an der der Schütze gestanden haben musste, denn hier lagen zwei leere Schrotpatronenhülsen am Wegesrand. Er zog sich Gummihandschuhe an, hob die Hülsen auf und gab sie an seinen Mitarbeiter weiter, der sie in einen Plastikbeutel fallen ließ.
Dann drehte er sich um, blickte aus schlitzartig zusammengekniffenen Augen gegen die blendende Sonne den Weg entlang zurück, knetete einen Moment lang seine Unterlippe mit Daumen und Zeigefinger und sagte schließlich zu seinem Kollegen: »Für mich ist die Sache eindeutig. Der Wagen hat gestanden, als auf die Scheinwerfer geschossen wurde. Siehst du das auch so?«
Helge Dulz nickte nur.
»Vermiss mal die Entfernung von der Stelle, an der der Schütze gestanden haben muss, bis zum Transporter«, wies Woyke ihn an. »Ich gehe den Weg bis zur Hauptstraße ab.«
Er ging zurück zu dem im Graben liegenden Wagen und achtete dabei auf den Wegesrand, um nichts zu übersehen. Auf dem Schotterweg hinter dem Transporter verlor sich die Schleifspur, aber wenige Meter weiter fand er Reifenabdrücke auf der rechten Wegseite im Gras des weichen Randstreifens vor dem Graben. Die Abdrücke waren an einer Stelle ausgeprägter und hatten sich so tief in die Grasnarbe gegraben, dass die dunkle Erde darunter freigekratzt war. Dann führte die Spur wieder auf den Weg zurück und verlor sich im Schotter. Das gleiche Bild bot sich etwa fünfzehn Meter weiter erneut, allerdings mit deutlich anderen Reifenabdrücken.
»Von den Reifenspuren da hinten im Gras nehmen wir Gipsabdrücke«, bestimmte Woyke, als er zu Helge Dulz zurück kam.
Henning Leander setzte an diesem Nachmittag den Plan in die Tat um, den er gefasst hatte, als er und Lena mit den altersschwachen Klapperrädern seines Großvaters zu Mephistos Brotbackabend nach Oevenum geradelt waren: Er lief zu Eisen-Gustav im Gewerbegebiet am Hafen, um für sich und Lena neue Fahrräder zu kaufen. Vor einiger Zeit war er auf dem Weg zum Deich hier vorbeigekommen und hatte erstaunt festgestellt, dass es in dem fabrikhallenartigen Geschäft fast alles Erdenkliche zu kaufen gab, von Werkzeug und Maschinen über Strandkörbe und Gartenmöbel bis zu Fahrrädern. Die Hitze wechselte allmählich von den angenehm luftigen Sommer-Temperaturen der vergangenen Tage zu hochsommerlicher Schwüle. Die Luft flimmerte über dem Asphalt der wenig ansehnlichen Gewerbegebietserschließung, und so war Leander froh, als er das Geschäft endlich erreicht hatte.
Im Inneren des geräumigen Ladens war es angenehm kühl. Offensichtlich powerte hier eine Klimaanlage der Extraklasse, und allein deshalb hätte es sich schon gelohnt, das Geschäft ausgiebig zu erkunden. Ein Verkäufer war schnell gefunden, zudem einer, der so sehr in seinem Element war, dass Leander schon bald befürchtete, nicht nur zwei Fahrräder zu erstehen, sondern als Inklusivleistung einen Wochenworkshop über
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